Jetzt ergriff er doch eine ihrer Hände. Sie hatte schlanke, gepflegte Hände. Ihr Kopf fiel nicht nach vorne über, als ihm eine seiner Stützen genommen wurde. Wie einen kleinen Vogel, den man gerade auf dem Boden unterhalb seines Nestes gefunden hatte, hielt Leonardo diese weiche warme Frauenhand in den seinen und betrachtete seine Beute mit verzücktem Blick.
„Ich kann es nicht ertragen, wenn eine schöne Frau so unglücklich ist“, sagte er. Tiefes Mitgefühl lag in seiner Stimme. „Wie kann ich dir nur helfen, kleine Nelly?“
Er schaute an Nelly vorbei auf die Uhr an der Wand. Kurz vor 16 Uhr. In vier Stunden musste er im Süden Frankfurts sein, in voller Nikolausmontur, er hatte es versprochen. Es war der Auftritt in der Villa eines bekannten Juweliers, der jeden Mittag seinen Lunch bei ihm einnahm, außer dienstags. Montags kam er mit seinem Porsche, mittwochs mit seinem Ferrari und donnerstags fuhr er schon mal den Beetle seiner Frau, wenn die für größere Einkäufe den Landrover benötigte.
Er gehörte zu den Leuten, die ihre Freizeit wirklich ernst nahmen und die es nicht gewohnt waren, dass man ihnen eine Bitte abschlug. Für heute, dem Tag seines 38. Geburtstags, wünschte er sich nichts sehnlicher, als dass der Nikolaus in seiner Residenz am Lerchesberg erschien und jedem seiner Geburtstagsgäste ein kleines Erinnerungsgeschenk an den heutigen Tag überreichen würde. Was sagte man nicht alles zu, wenn einem das Wohl seines Geschäftes am Herzen lag.
„Tanz mit mir, Leonardo“, flüsterte Nelly.
„Cosa?“ Er war verwirrt. Sie wollte jetzt tanzen, hier, in einem Lokal, halbbesoffen zwischen den leeren Tischen?
Nelly nickte. „Das ist unverfänglich, glaube mir. Nur ein bisschen bewegen. Langsame Musik. – Ich will doch nur einen Moment gehalten werden.“
Sie lächelte ungeschickt. „Wir bräuchten auch gar nicht zu tanzen. Lass die Musik aus, wenn du willst, und stell dich einfach mit mir zusammen hier in den Raum.“
Weiber haben echt alle ‘nen Schuss, dachte Leonardo.
„Was immer dich glücklich macht, Principessa“, antwortete er charmant und schob die CD von Eros Ramazzotti ein, doch nicht ohne vorher die Restauranttür zu verschließen.
***
Nelly Fischer klammerte sich so fest an seinen Körper, dass ihm fast schwindelig wurde. Diese kleine zierliche Frau, die von Venus persönlich mit einem prachtvollen Busen ausgestattet worden war, hatte ihre Arme um seinen Hals geschlungen, als wenn sie ihn nie wieder loslassen wollte. Er träumte das doch alles hoffentlich nicht nur!
Leonardo war spitz wie ein Radieschen – ach, was sage ich, spitz wie ein Rettich, der endlich in das bereitstehende Salatdressing eintauchen wollte! Er vermied es, ihren Hüften zu nahe zu kommen, nicht, dass sie seine Erregung spürte. Das Geheimnis des Erfolgs lag darin, den richtigen Zeitpunkt abzupassen.
Eros sang von ewiger Liebe, während ihr Busen sich gegen sein weißes Hemd presste. Er sah es nicht, konnte sich aber vorstellen, wie diese weißen, fleischigen Alabasterkugeln rhythmisch nach oben aus dem Ausschnitt ihrer Bluse gehoben wurden.
„Ich wollte schon immer mal meine Wange an deine Schulter legen“, sagte sie. Eigentlich lallte sie es, aber man konnte gerade noch darüber hinweghören.
Er hauchte Eros` italienische Liebesbekundungen in ihr Haar, flüsterte sie in ihr Ohr, un altra te, dove la trovo io, berührte sie dabei ganz sacht mit den Lippen und wünschte sich, dass er diesen blöden Nikolaustermin nie angenommen hätte.
Im Stehen trank sie weitere vier Ramazzotti, weil das jetzt gerade so gut zu dem Sänger passte, wie sie ihm versicherte. Leonardo verstand. Wenn er wollte, war er der Welt bester Frauenversteher.
Im Erdgeschoss unterhalb seines Lokals befand sich ein kleiner Raum. Er war nicht größer als eine Abstellkammer, aber immerhin geräumig genug, um ein Bett und eine Duschkabine darin aufzustellen. Schon manche Nacht hatte er da unten verbracht, wenn es spät geworden war und er nicht mehr nach Hause fahren wollte. Auch für zwei Personen war das Bett groß genug, er hatte es oft genug getestet. Ein Schäferstündchen mit dieser Frau, oh, Heilige Mutter Maria, was für eine Vorstellung! Bei dem Gedanken, Nelly aus ihrer schwarzen Bundfaltenhose zu schälen, wurde ihm ganz heiß in der Lendengegend. Mit der Bluse konnte er eigentlich schon hier oben beginnen …
Er nestelte zwischen ihren beiden Körpern an Nellys Knopfleiste herum. Schon konnte er den teuren Spitzen-BH an seinen Fingerkuppen spüren. Ein triumphartiges Gefühl bemächtigte sich seiner. Nellys Hände waren mittlerweile seinen Rücken heruntergewandert und umfassten sein Gesäß.
„Du bist so ein smarter, attraktiver Mann, Leonardo! Ich habe deine kernigen Gesichtszüge“ – dabei krallte sie sich in seine Pobacken – „schon immer bewundert.“
Ihre nächsten Worte hätten ihn ernüchtert, wenn er vorher betrunken gewesen wäre: „Leo, oh weh, Leo, mir ist übel. Ich glaube, ich muss mich übergeben!“
Nicht nur Leonardos Ruhe-, und Liebesstätte lag ein Stockwerk tiefer, sondern auch die Toiletten.
Nelly war federleicht, er hätte sie ohne große Schwierigkeiten hochheben und tragen können, aber er glaubte, dass der Inhalt ihres Magens weniger rebellierte, wenn sie auf ihren eigenen Füßen stand. Somit schlang er seinen Arm um ihre zarte Taille und führte sie langsam und vorsichtig, Schritt für Schritt durch das Treppenhaus, die Stufen hinab.
Dann sind wir wenigstens schon mal nebenan, versuchte Leonardo mit sich selbst zu scherzen, um sein Hochgefühl aufrechtzuerhalten. Nelly würde nicht die erste Frau sein, die er flachlegte, und die sich vorher ihres Mageninhalts entledigt hatte. Ihn, Leonardo Alfonso Santalucia, würde so ein kleiner Zwischenfall nicht aus dem Konzept bringen!
Nellys Schritte wurden schneller, je näher sie den Toiletten kamen. Der Einfachheit halber stürzten sie beide geradewegs auf die Herrentoiletten zu, sie lagen näher an der Treppe. Genauso kräftig, wie Nelly eben noch seinen Hintern gehalten hatte, presste sie nun die Hände auf ihren Mund.
„Gleich, Piccolina, nur noch ein paar Schritte“, versprach er. Vor Anstrengung, die taumelnde Frau aufrecht die Treppe hinunterzubugsieren, lief ihm der blanke Schweiß den Rücken herunter.
Nelly bäumte sich auf und gab klägliche Würgelaute von sich. Sie hielt sich tapfer, denn sie versuchte mit aller Gewalt, ihren Mageninhalt nicht aus ihrem Mund zu lassen, bevor sie sich vor der Toilettenschüssel befanden.
Leonardo stand helfend und stützend hinter ihr. Mit einer Hand hielt er ihr wundervolles kastanienbraunes Haar zusammen, damit es ihr nicht ins Gesicht fiel. Sein anderer Arm lag um ihre Taille, als wolle er sie davor beschützen, nicht in die Toilette hineinzufallen und durch den Abfluss zu rutschen. Warum er diese Stellung einnahm, konnte er sich später nicht mehr erklären. Auch nicht, warum Nelly sich nicht sofort niederkniete, sondern wie der Vogel Strauß, der den Kopf in den Sand steckte, dastand und sich mit einer Hand an den grünen Wandfliesen abstützte.
Die Steinplatten unter ihren Füßen glänzten tückisch: Bastian, der Kindergartenpraktikant, hatte ausgiebig neben die Schüssel uriniert. Der Boden war glitschig nass. Leonardo hatte keine Zeit, sich darüber zu ärgern, denn Nellys hohe Schuhe verloren den Halt, noch bevor die Caponata und Involtini alla Siziliana vollständig den Weg nach Draußen gefunden hatten. Sie knickte ein wie eine Salzstange, die man zwischen Zeigefinger und Daumen zerbrach, und Leonardo, der irgendwie hinten dranhing, fiel vornüber auf sie drauf.
Das Geräusch, als der zierliche Körper unter ihm auf das Porzellan aufschlug, war grauenhaft. Seinen eigenen Schmerz, sein kleiner Finger hatte sich im Eifer des Gefechts zwischen Toilettenschüssel und Brille verkantet, spürte er in diesem Augenblick nicht.
„Leo, ich …, Leo ich…“ würgte Nelly.
„Cara mia, warte, warte …“ Leonardo mühte sich auf die Beine.
Er blickte in den Lockenkopf vor sich und nahm aus dem Augenwinkel das Wedeln ihrer Hand wahr. Eine flehende, hilflose Geste.
„Leo, Leo, bitte …“
Er beugte sich nach vorn und griff wie ein Sumoringer von hinten durch Nellys Achselhöhlen, um sie aufzurichten. Doch Nelly hing wie ein Sack Zement vor ihm und machte keine Anstalten, ihm bei der Befreiung aus ihrer misslichen Lage mitzuhelfen.
Ein hohles, langgezogenes Ringen nach Atem. Immer und immer wieder. Es ließ Nellys Würgegeräusche in den Hintergrund treten. Und plötzlich würgte, flehte und stöhnte Nelly nicht mehr.
„Porco dio“, fluchte Leonardo, der sich beim Aufprall seines Kinns auf Nellys Hinterkopf schmerzhaft in die Zunge gebissen hatte. Sein kleiner Finger hatte den Sumogriff vermutlich nicht überlebt. Er klebte wie eine zermatschte Schnecke zwischen Nelly und der Toilettenbrille. Er wollte gar nicht wissen, wie er zugerichtet war. Vorsichtig zog Leonardo beide Hände unter dem Frauenkörper weg, als der Gestank eines kraftvollen Furzes die Kabine erfüllte. Wenn ihn bis jetzt noch nichts hatte abtörnen können, nun war es soweit.
„Nelly!“, tadelte er die Frau unter sich. Er drückte sein schmerzendes Kreuz durch, stemmte die Hände in die Hüften und blickte zurechtweisend unter seinem verschwitzten Haupthaar hervor.
Doch Nelly reagierte nicht auf die Zurechtweisung. Nelly war tot.
Was um alles in der Welt macht ein heißblütiger Italiener mit einer Frauenleiche, wenn er den guten Ruf seines Restaurants unter keinen Umständen aufs Spiel setzen möchte und er dazu als waschechter Sizilianer selbstverständlich nichts mit der Polizei zu tun haben will? Nelly muss verschwinden, das ist klar. Doch wenn die Umstände schwierig und die Leiche sich als ziemlich widerspenstig herausstellt, ist das gar nicht so einfach …