Die Antwort der Kollegen aus Thüringen ließ nicht lange auf sich warten.
„Und…?“, fragte Bernsdorfer gespannt, während er Reimer mit einer Geste einen Sessel vor seinem Schreibtisch zuwies.
„Leider gibt es nicht allzu viel zu berichten, da Clausnitzer einen Tag nach Professor Haueisens Tod ebenfalls verstorben ist. Laut Hausarzt durch Herzversagen.“
„Den können wir also nicht mehr fragen, was er ihm so dringend zeigen wollte“, brummte Bernsdorfer unzufrieden vor sich hin. „Klingt dennoch mehr als merkwürdig, dass er ausgerechnet kurz nach Haueisen stirbt. Da stimmt doch etwas nicht!“
„Na ja, er war immerhin schon vierundachtzig und nicht gesund, wie die Kollegen sagten.“
„Trotzdem, Reimer, ich glaube, Sie sollten sich auf den Weg nach Weimar machen! Sie wissen ja, wer nicht versucht, hat schon verloren.“
Ein alter Leitspruch Bernsdorfers, den man sich immer mal wieder anhören musste, während er einem jovial zuzwinkerte und väterlich auf die Schultern klopfte.
„Wird gemacht, Chef! Vorher werde ich aber noch einen Kollegen des Ermordeten befragen, den mir Frau Haueisen genannt hat. Ein gewisser Dr. Harald Scholl. Da er zeitweise mit ihrem Ehemann zusammengearbeitet hat, kann er vielleicht mit Haueisens letzten Worten etwas anfangen.“
***
„Möglicherweise hat Goethe ja gar nicht ‚Mehr Licht’ gesagt, sondern am Ende seines Lebens einfach nur die lapidare Frage gestellt: ‚Mehr nicht’?“
Eine solche Antwort hatte Reimer nicht erwartet. Er fand es zumindest merkwürdig, dass Professor Dr. Harald Scholl in Anbetracht der ernsten Umstände zum Scherzen aufgelegt war.
„Ein alter Kalauer unter unseren Germanistikstudenten“, fuhr der attraktive Professor mit den grau melierten Locken unbeirrt fort.
„Es ist übrigens sogar umstritten, ob Goethe diese Worte überhaupt ausgesprochen hat, da der Hausarzt, der sie für die Nachwelt schriftlich festhielt, sich zu dem fraglichen Zeitpunkt gar nicht im Sterbezimmer des großen Dichters befand und es ihm nur erzählt wurde.“
„Könnten Sie sich vorstellen, dass ‚Mehr Licht’ vielleicht auch ein verschollenes Werk Goethes ist, das Ihr Kollege Haueisen entdeckt hat? Und dass er diese Information vor seinem Tod unbedingt noch mitteilen wollte?“
„Zuzutrauen wäre es ihm. Ich an seiner Stelle hätte sicher eher den Namen des Mörders genannt. Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen: Es kursiert tatsächlich seit ewigen Zeiten das Gerücht, dass Goethe in seinen letzten Lebensjahren nicht nur Faust II fertig gestellt habe, sondern noch ein anderes literarisches Werk. Es gibt Verfechter der These, dass er es geheim gehalten habe, weil es die Machenschaften der Mächtigen seiner Zeit an den Pranger stellte und deshalb erst nach seinem Tod veröffentlicht werden sollte. Das wäre insofern verständlich, als er ja als Geheimrat im Staatsdienst war und Pflichten als Regierungsrat am herzoglichen Hof hatte.“
„Sie halten die Existenz eines solchen Manuskriptes also für möglich …?“
Scholl räusperte sich. „Im Prinzip schon. Ich muss sogar zugeben, dass auch ich diesem ‚Goethe-Fieber’ eine Zeit lang verfallen war und einige Jahre mit Professor Haueisen in dieser Angelegenheit recherchiert habe. Allerdings ohne Erfolg. Also wenn Sie mich fragen: Gäbe es ein solches Werk, hätte man es längst gefunden! Aber mein werter Kollege Haueisen war so besessen von der Idee, dass er für dieses Argument taub war.“
„Mal angenommen, Ihr Kollege Haueisen hätte kurz vor seinem Tod tatsächlich ein Spätwerk Goethes ausgegraben …?“
Scholl stutze. „Das wäre in der Fachwelt natürlich eine absolute Sensation. Ein Werk von unschätzbarem Wert. Die ganzen Biografien müssten überarbeitet werden. Aber wie gesagt: Ich glaube nicht an diese Theorie und fürchte, dass mein werter Herr Kollege – sollte man ihm ein solches Werk angedient haben – sicher einem Betrug aufgesessen ist.”
„Sagt Ihnen in diesem Zusammenhang der Name Clausnitzer etwas?“
„Clausnitzer? Nein, nicht, dass ich wüsste. Warum fragen Sie?“
„Laufende Ermittlungen. Kann ich Ihnen im Moment leider nicht sagen. Aber kommen wir zurück auf Ihren toten Kollegen. Wie erklären Sie sich, dass Haueisen ausgerechnet ermordet wurde, als er glaubte, am Ziel seiner Suche zu sein?“
„Ein dummer Zufall, wenn sie mich fragen. Menschen werden wegen der unterschiedlichsten Dinge umgebracht – manchmal wegen ein paar lumpiger Euro. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es zwischen Haueisens Ermordung, die ich natürlich sehr bedaure, und diesem angeblichen ‚Goethe-Werk’ einen Zusammenhang gibt. Aber vielleicht weiß ja Professor Dr. Zanger mehr.“ Scholl deutete auf einen etwas griesgrämig aussehenden Mann im grauen Anzug, der den Flur entlang schlurfte. “Zanger weiß grundsätzlich alles besser.“
„Ihr Kollege scheint ja nicht gerade beliebt zu sein.“
Zanger braucht niemanden, der ihn liebt. Der ist sich selbst genug.“
Reimer bedankte sich und ging schnell auf diesen Professor Zanger zu, um ihm seine Dienstmarke unter die Nase zu halten.
„Ein verschollenes Goethe-Werk, das angeblich die Mächtigen seiner Zeit an den Pranger stellt? Wer behauptet denn so etwas?“ fragte Zanger abfällig, nachdem ihm Reimer den Anlass seiner Befragung genannt hatte. Der Professor hatte ein graues Eichhörnchengesicht mit passenden Knopfaugen hinter einer Hornbrille und musterte den Ermittler unfreundlich.
„Ihr Kollege, Herr Dr. Scholl, hat von dieser Theorie zumindest schon gehört …“
Professor Zanger sagte nichts, blickte nur geringschätzig in die Richtung, in die sein Kollege gerade verschwunden war.
„Man muss sich doch immer wieder wundern. Ein solches Werk ist schlichtweg undenkbar. Das wäre damals eine offene und gefährliche Auflehnung gegen die Staatsgewalt gewesen. Schiller war revolutionär gesinnt, wahrscheinlich auch Liszt, aber doch nicht unser altehrwürdiger Geheimrat Goethe, der sich zeitlebens die größten Verdienste im Staatsdienst erworben hat und mit Stolz seinen Adelstitel trug.“
„Immerhin lebten alle in der gleichen Zeitspanne …“, warf Reimer nicht ohne Stolz ein. Aus aktuellem Anlass hatte er gestern Abend im Internet die Biografie Goethes und dessen Zeitgenossen ausgiebig studiert und war selbst überrascht gewesen, was in den letzten Lebensjahren Goethes in der Welt alles passiert war. Da Goethe 1832 gestorben war – also vor genau 180 Jahren – hatte er sogar noch die Junirevolution in 1830 in Paris mitbekommen.
Professor Dr. Zanger zeigte sich jedoch wenig beeindruckt: „Ist ja schön, dass die Polizei, neuerdings sogar in die Tiefen der deutschen Kultur einsteigt, um ihre Mörder zu finden.“
„Wir hätten nichts gegen fachkundige Hilfe einzuwenden, Herr Professor …“
„Tut mir leid. Von Mördersuche verstehe ich nichts“, sagte Zanger ohne die Spur von Humor. „Im Übrigen muss ich jetzt zu meiner Vorlesung. Wenn Sie noch Fragen haben, wenden Sie sich doch bitte an mein Sekretariat.“
***
Liebevoll restaurierte Häuser, historische Gässchen und Plätze mit abgetretenem Kopfsteinpflaster – Reimer mochte die Weimarer Altstadt auf Anhieb. Er war vom Polizeipräsidium aus sehr früh in Frankfurt losgefahren und mit seinem Dienstwagen – einem silberfarbenen 3er BMW – ohne Stau durchgekommen. Eigentlich hatte er jetzt noch etwas Zeit, um sich auszuruhen oder etwas zu unternehmen, bevor er den Weimarer Kollegen seinen angekündigten Besuch abstatten würde.
Reimer – heute im Hemd mit vielen bunten Flugzeugprints und dunkler Sonnenbrille – fiel in der Touristeninformation überhaupt nicht auf. Der Frankfurter Ermittler ließ sich von er freundlichen jungen Dame einen Plan mit den Sehenswürdigkeiten der Stadt geben, den er neben seinen Rucksack auf die Kühlerhaube seines Wagens legte und ausgiebig studierte. Er trank noch einen Schluck aus der Wasserflasche. Dann startete er seine kleine Runde, die ihn an dem großen, gelben Haus am Frauenplan vorbeiführte, wo Goethe fünfzig Jahre lang gelebt hatte. Er spazierte weiter durch den Park an der Ilm zu dem Gartenhaus Goethes, das ihn besonders interessierte.
Da das Gartenhaus als Museum eingerichtet war, konnte man es auch innen besichtigen. Reimer lief durch das Erdsälchen – eine altertümliche Bezeichnung für das Speisezimmer. Er sah sich das multifunktionale Stehpult an, an dem so manches Gedicht entstanden war, und bewunderte im Schlafzimmer das zusammenklappbare Reisebett, auf dem Goethe geschlafen hatte. Dort hingen auch drei Zeichnungen, die Goethe „meine Mondscheine“ genannt hatte. Leicht amüsiert erfuhr Reimer, dass Goethe zum Entsetzen seiner Zeitgenossen bei Mondschein des Öfteren ein kühles Bad im Fluss genommen hatte – und das auch noch nackt. Für die damalige Zeit ein außergewöhnliches Treiben!
Reimer sah auf die Uhr. Er musste den Rückweg antreten, wenn er pünktlich um elf im Kommissariat sein wollte.
Neben einem deftigen Frühstück mit Thüringer Wurst und eingelegten Gurken erhielt er von seinen Weimarer Kolleginnen und Kollegen eine Akte in die Hand gedrückt. Sie enthielt unter anderem die Kopie des Totenscheins sowie ein Protokoll über die Befragung einer Nachbarin, die Freiberg hieß. Sie hatte sich die letzten Jahre um den alten Clausnitzer gekümmert. Clausnitzers Ehe war kinderlos geblieben, seine Frau schon vor Jahrzehnten gestorben. Das Protokoll gab wenig her. Also machte Reimer sich auf den Weg, um diese Frau selbst zu befragen.
Erika Freiberg schien auf ihn gewartet zu haben. Zumindest lehnte die Frau mittleren Alters, die für ihr Gewicht etwas zu klein geraten war, im Fensterkreuz ihrer Altbauwohnung im ersten Stock – alles kontrollierend, was in ihrer Straße vor sich ging. Sie hatte neben ihrer Neugier auch etwas freundlich Verbindliches. Und wenn sie lächelte, zeigten sich nette Grübchen um ihren Mund.
„Ja, ja, so schnell kann es gehen“, meinte Frau Freiberg bedauernd. „Am Abend davor war er noch richtig aufgekratzt. Er hat sogar eine Flasche Meisner Wein aufgemacht und mit mir angestoßen.“
„Hat er gesagt warum?“ Reimer wurde hellhörig.
„Er sagte, er hätte heute einen Telefonanruf bekommen, der für ihn sehr positiv war, und wolle das jetzt mit mir feiern. Er sprach sogar davon, dass er – wenn alles klappt – doch noch die Italienreise machen würde, von der er immer geträumt hat. Und jetzt liegt der alte Clausnitzer in der Leichenhalle und wird heute Nachmittag beerdigt.“
„Haben Sie mitbekommen, ob Clausnitzer an diesem Abend noch weiteren Besuch hatte? Ich meine nach Ihnen.“
„Nein, mein Schlafzimmer geht nach hinten raus. Aber jetzt, wo Sie das so sagen: Gewundert habe ich mich, dass auf dem Tisch zwei Weingläser standen, obwohl ich am Abend mein Glas gewaschen und zurück in den Schrank gestellt hatte. Aber als ich den Alten tot in seinem Bett fand, war ich ja auch erst einmal ganz durcheinander. Merkwürdig war auch, dass der Clausnitzer noch komplett angezogen war. Ich dachte, vielleicht ist ihm schlecht geworden, und er hat es gerade noch in sein Bett geschafft.“
„Kann ich das Schlafzimmer mal sehen?“
„Wenn Sie wollen … Ich habe noch einen Schlüssel. Sie sind schließlich von der Polizei. Warten Sie einen Moment.“
Kurz darauf folgte Reimer Frau Freiberg zum Nachbarhaus. Sie ging vor und öffnete das Gartentörchen. Dabei erzählte sie munter weiter: „Keiner weiß so recht, was jetzt mit dem Haus passieren soll. Bis jetzt haben sich keine Verwandten gemeldet. Die Beerdigung muss auch noch bezahlt werden. Aber das hat der Clausnitzer angeblich geregelt.“
Frau Freiberg schloss auch die Holztür des kleinen alten Hauses auf, in dessen Türbogen die beeindruckende Jahreszahl 1819 stand.
Reimer trat ein und war überrascht, wie schlicht die engen Kammern eingerichtet waren. Teilweise fühlte er sich an das eben besichtigte Gartenhaus Goethes erinnert. Auch hier schien im Laufe der Jahre nicht viel verändert worden zu sein. Nur ein großer Fernseher und ein automatisch verstellbarer Ledersessel im Wohnzimmer zeugten vom Luxus der Neuzeit. „Wissen Sie übrigens etwas von einem Brief, den Clausnitzer vor knapp einer Woche an einen Professor in Frankfurt geschickt hat?“
„Aber ja, den habe ich für ihn eingeworfen. Der ging an einen Professor, Haueisen, wenn ich mich recht erinnere. Habe dem alten Clausnitzer sogar noch eine Briefmarke ausgelegt.“
Das wäre also geklärt, registrierte Reimer und folgte Frau Freiberg über die schmale, knarrende Stiege in das Schlafzimmer. Kammer wäre für diesen kleinen und nur mit einem winzigen Fenster ausgestatteten Raum die treffendere Bezeichnung gewesen.