MordsMomente

Bitterböse Krimi-Cocktails

Die Bloody Maries – die mörderischen Damen aus dem Vordertaunus – haben zugeschlagen: „Mehr Licht“ sind nicht nur die letzten Worte Goethes vor genau 180 Jahren – „Mehr Licht“ röchelt auch ein Frankfurter Germanistikprofessor, bevor er tot zusammenbricht. Kommissar Reimer, nerviger aber sympathischer Klugscheißer der Frankfurter Mordkommission, ermittelt und kommt einem geheimen und noch unveröffentlichten Goethe-Manuskript auf die Spur, das ihn nach Weimar und in die Tiefen menschlicher Abgründe führt.

Die Kurzgeschichte stammt aus der Feder von Chris Silberer und ist Teil der Anthologie „MORDSMOMENTE“ aus dem crimetime-Verlag. Gemeinsam mit den Autorinnen Tanja Konopka, Marion Schmitt, Tina Lubkoll, Birgit Lind, Bianca-M. Feser und Roxana Ené hat sie bitterböse Geschichten geschrieben.

Diese Autorinnen wissen mit hinterhältigen Ideen und schwarzem Humor sowie einer guten Portion Lokalkolorit zu fesseln.

Mit Original-Cocktailrezepten der Autorinnen und Illustrationen von Roxana Ené.

Ein Lesespaß mit Gänsehautgarantie.

ISBN 978-3-9813749-5-7 ∙ 183 Seiten ∙ 9,95 €

 

„Bei einem Cocktail handelt es sich nach Definition von 1806 um ‚ein stimulierendes Getränk aus Spirituosen aller Art, Zucker, Wasser und Bitters’. MORDSMOMENTE ist genau das in literarischer Form. Mal bittersüß, mal tiefschwarzhumorig, mal eine Persiflage, aber immer extrem weiblich. Die mörderischen Damen des Vordertaunus haben zugeschlagen und ziehen eine literarische Blutspur in ihrem Kurzgeschichtenbuch.“
Stephan Schwammel, Eschborner Zeitung

Hinweis:
In MordsMomente findest du die Kurzgeschichte ‚Eiskalt’ erstmalig – sie wurde von mir auf Charly Unkelbach umgeschrieben und erscheint deshalb in abgeänderter Form auch im Buch ‚Unkelbach’.

Leseprobe aus MordsMoment:

MEHR LICHT
von Chris Silberer

„Mehr Licht“ – das waren die letzten geröchelten Worte von Heribert Haueisen, bevor der Germanistikprofessor blutüberströmt vor den Augen seiner Ehefrau zusammenbrach, gemeuchelt mit einem scharfen Gegenstand, der noch in seiner Brust steckte.

Harry Reimer schrieb diesen denkwürdigen Zweiwortsatz in sein aktuelles Fallbuch. Der 34-jährige Kommissar von der Frankfurter Mordkommission – groß, schlaksig und mit rasierter Halbglatze – befragte gerade Frau Haueisen als Zeugin. Als vielseitig interessierter Mensch wusste Reimer natürlich, dass es die gleichen Worte waren, die Goethe auf dem Totenbett ausgesprochen hatte. Wahrscheinlich, weil sein Augenlicht im Sterben immer schlechter wurde und schließlich ganz erlosch, als er sein Leben aushauchte.

Frau Haueisen schnäuzte unterdessen mehrmals geräuschvoll in ein besticktes Stofftaschentuch, um ihren erneut einsetzenden Weinkrampf zu stoppen, was aber nicht so recht gelingen wollte. Reimer gab ihr Zeit, sich zu sammeln. Schließlich hatte sie gerade auf tragische Weise ihren Ehemann verloren. Der Ermittler beobachtete sie durch die markante Brille mit dem schwarzen Gestell, die als Designermodell oder auch als einfaches Kassengestell hätte durchgehen können. Sein großes, bunt gemustertes Hemd über T-Shirt und Jeans war für einen Kripobeamten ebenfalls eher ungewöhnlich – versteckte aber wunderbar das Halfter für die Dienstpistole, eine P30 mit 15 Schuss, und auch den kleinen Bauchansatz. Betriebssport war eher nicht Reimers Ding. Immerhin ließ er sich regelmäßig im Schießkino des Polizeipräsidiums sehen.

Der Kripobeamte wartete noch immer und versuchte, sich in den toten Germanistikprofessor hineinzuversetzen. Anders als Goethe, der sein Leben friedlich im Kreise vertrauter Menschen beendet hatte, waren Haueisens Worte doch sicher ein letzter Versuch gewesen, auf seinen Mörder aufmerksam zu machen. Oder doch zumindest ein Hinweis, um das Rätsel seines unnatürlichen Todes aufzuklären.

„Frau Haueisen, haben Sie eine Idee, was ihr Mann mit diesen Worten sagen wollte?“
Die Frau mit dem rundlichen Gesicht und den verheulten Kulleraugen schüttelte traurig den Kopf: „Nein! Obwohl niemand besser weiß als ich, dass er sein ganzes Lebenswerk Goethe gewidmet hat, kann ich nicht sagen, warum er ausgerechnet diesen Satz …“
Der Rest ging in heftigem Schluchzen unter.

Wahrscheinlich wäre es Gerlinde Haueisen lieber gewesen, wenn sich ihr Ehemann die letzten Worte für eine Liebesbezeugung oder doch zumindest ihren Namen aufgehoben hätte, dachte Reimer, der Single war. Dann fuhr er fort: „Woran hat Ihr Mann in letzter Zeit gearbeitet?“
Frau Haueisen riss sich zusammen: „Heribert war immer sehr beschäftigt. Seine regelmäßigen Vorlesungen an der Uni … Auch die Projektgruppen mit den Studenten nahmen viel Zeit in Anspruch. Dann seine Vorträge – teilweise bis nach Japan. Und natürlich seine Passion …“
„Welche Passion?“
„Eigentlich war Heribert, seit ich ihn kenne, auf der Suche nach einem verschollenen Werk Goethes. Es war fast schon eine fixe Idee. Heribert ist überall hingereist, um diesen Kulturschatz – wie er es nannte – zu finden. Erst vor drei Tagen war er ganz überraschend nach Weimar gefahren, um einen Mann zu treffen, der ihm einen Brief geschickt hatte. Angeblich hatte er eine unerwartete Entdeckung gemacht, die er Heribert unbedingt zeigen wollte.“
„Wissen Sie, wie dieser Mann hieß?“
„Irgendetwas mit Klaus …, ich komme jetzt nicht auf den Namen. Aber der Absender kam mir irgendwie bekannt vor. Ich glaube, mein Mann hatte früher schon einmal mit ihm zu tun. Der Brief muss noch irgendwo auf seinem Schreibtisch liegen. Soll ich ihn suchen …?“
„Nein, lassen Sie nur. Die Spurensicherung wird das schon machen. Aber erzählen Sie mir doch mehr von Weimar. Hat Ihr Mann Ihnen gesagt, was bei dem Treffen herauskam?“
„Heribert hat nur Andeutungen gemacht. Er war ein, na ja, ein etwas verschlossener Mensch. Er wollte immer erst ganz sicher gehen, bevor er etwas preisgab. Aber er hatte so glänzende Augen, als er von der Reise zurückkam. Als wäre er endlich am Ziel seiner Wünsche angekommen. Lange habe ich ihn nicht so glücklich gesehen. Und dann das hier!“
Frau Hauseisens heftiges Schluchzen durchzuckte ihren ganzen Körper, während sich Reimer die Gretchenfrage stellte, ob Professor Haueisen sterben musste, weil er tatsächlich ein vergessenes Werk des Dichterfürsten gefunden hatte.

***

„Mut zum Zweitbuch!“ sagte Reimer sarkastisch zu seinem Kollegen Fredy Dauth, der etwas unbedarft in ‚Goethes größte Werke’ blätterte, ein dicker Wälzer, der auf dem Tisch im Besprechungszimmer des K 11 lag.
„Sehr witzig!“ ärgerte sich Dauth, der rein optisch ein Vorzeigebulle par excellence war: untersetzter, durchtrainierter Körper und Muskeln, die das schwarze T-Shirt zu sprengen schienen. Selbst die größte Größe der Sicherheitswesten ließ ihn bei Einsätzen aussehen wie einen Schuljungen, der seinen Klamotten entwachsen war.

Mittlerweile war auch Bernsdorfer, der Leiter der Mordkommission, eingetroffen, um mit den SOKO-Mitgliedern die Fakten des Mordfalls durchzugehen. Professor Dr. Haueisen war mit seinem eigenen Brieföffner erstochen worden. Die Tatwaffe wies keine Fingerabdrücke oder andere Spuren auf. Die Auswertung der DNA-Spuren an der Kleidung des Opfers war noch nicht abgeschlossen. Man vermutete, dass die fragliche Person über die offene Terrassentür geflohen war. Ein halber Fußabdruck im Garten wurde vorläufig dem Täter zugeschrieben.
Haueisen hatte sich offensichtlich nicht gewehrt, was dafür sprach, dass er den Mörder – oder die Mörderin – kannte. Bei diesem Sachverhalt kam also auch die Ehefrau als Täterin in Betracht. Zumal an der Terrassentür keine Fingerabdrücke, außer denen des Toten und seiner Ehefrau, festgestellt worden waren.

„Der Mörder könnte natürlich Handschuhe getragen haben“, stellte die Kollegin vom Erkennungsdienst fest.
„Wenn die Haueisen die ‚trauernde Witwe’ nur gespielt hat, dann muss sie eine verdammt gute Schauspielerin sein“, bemerkte Reimer. „Außerdem fehlt mir das Motiv.“
„Verschmähte Liebe? Hass? Eifersucht?“ Bernsdorfer hatte gleich mehrere Antworten parat. „Fredy, prüfen Sie doch bitte mal im sozialen Umfeld, wie die beiden zueinander standen. Was hat übrigens Ihre Befragung in der Nachbarschaft ergeben?“
„Leider nichts. Keiner der Nachbarn hat zu der fraglichen Zeit etwas beobachtet.“
In den gutbürgerlichen Häusern der Georg-Speyer-Straße in Bockenheim schien sich niemand so richtig um das Privatleben der anderen zu kümmern.

Mangels weiterer Hinweise landeten die SOKO-Mitglieder deshalb wieder bei dem Ausspruch ‚Mehr Licht’ und was er damals und heute – im Angesicht des Todes – bedeuten könnte.
„Vielleicht hat Goethe als Universalgenie eine Apparatur erfunden, die ‚mehr Licht’ produzieren kann“, überlegte Reimer laut. „Vielleicht war er es leid, bei Kerzenlicht zu schreiben. Und wer es schafft, neben seiner Dichtkunst eine Farbenlehre aufzustellen, kann vielleicht auch so etwas konstruieren.“
„Und wie soll das gehen?“ fragte Dauth skeptisch, der seinen Kollegen schon immer für einen kleinen Klugscheißer gehalten hatte. Trotzdem waren die Beiden, wenn es darauf ankam, ein ganz gutes Team.
„Vielleicht mit Diamanten, die das Licht brechen und bündeln“, mutmaßte Reimer, der heute keine Gelegenheit scheute, sein Halbwissen zum Besten zu geben. „Keine Ahnung. Aber Michelangelo hat ja zum Beispiel auch einen der ersten Flugdrachen konstruiert …“
„Genau! Und als die ‚Lichtmaschinenpläne’ aufgetaucht sind, hat die Energie-Mafia den Professor gekillt und alle Pläne verschwinden lassen. Das glaubst du ja wohl selbst nicht!“ Dauth verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust, während sein Blick provozierend auf Reimer gerichtet war.
„Vielleicht meinte Goethe ja auch ‚Meerlicht’. Immerhin hat er ja mit der Postkutsche das Land der Zitronen und das Mittelmeer bereist“, wagte Elvira, die eigentlich Protokoll führte und eine romantische Ader hatte, einzuwerfen. „Vielleicht war das sein allerletztes Gedicht, hinter dem der Professor und irgendwelche Schurken her waren.“
„Sehr interessante Gedanken, meine Damen und Herren, aber im Moment leider wenig zielführend!“ mischte sich jetzt Bernsdorfer etwas ungehalten ein. „Wie wäre es, wenn wir erst mal die Hausaufgaben machen und konkreten Spuren nachgehen? Was haben Sie zum Beispiel bezüglich des Briefschreibers aus Weimar herausgefunden, Reimer?“ Der Chef sah seinen Ermittler erwartungsvoll an.
„Die Kollegen aus Thüringen recherchieren noch und wollen mich anrufen, sobald sie etwas Näheres wissen. Auf jeden Fall heißt der Mann, der den Brief an Haueisen geschrieben hat, Karl Clausnitzer. Leider gab es nur noch den Umschlag, den Brief scheint Haueisen oder vielleicht sogar sein Mörder eingesteckt zu haben.
„Das ist doch mal ein konkreter Ansatz, Harry. Sobald Sie mehr wissen, kommen Sie bitte in mein Büro.“

***

Die Antwort der Kollegen aus Thüringen ließ nicht lange auf sich warten.
„Und…?“, fragte Bernsdorfer gespannt, während er Reimer mit einer Geste einen Sessel vor seinem Schreibtisch zuwies.
„Leider gibt es nicht allzu viel zu berichten, da Clausnitzer einen Tag nach Professor Haueisens Tod ebenfalls verstorben ist. Laut Hausarzt durch Herzversagen.“
„Den können wir also nicht mehr fragen, was er ihm so dringend zeigen wollte“, brummte Bernsdorfer unzufrieden vor sich hin. „Klingt dennoch mehr als merkwürdig, dass er ausgerechnet kurz nach Haueisen stirbt. Da stimmt doch etwas nicht!“
„Na ja, er war immerhin schon vierundachtzig und nicht gesund, wie die Kollegen sagten.“
„Trotzdem, Reimer, ich glaube, Sie sollten sich auf den Weg nach Weimar machen! Sie wissen ja, wer nicht versucht, hat schon verloren.“
Ein alter Leitspruch Bernsdorfers, den man sich immer mal wieder anhören musste, während er einem jovial zuzwinkerte und väterlich auf die Schultern klopfte.
„Wird gemacht, Chef! Vorher werde ich aber noch einen Kollegen des Ermordeten befragen, den mir Frau Haueisen genannt hat. Ein gewisser Dr. Harald Scholl. Da er zeitweise mit ihrem Ehemann zusammengearbeitet hat, kann er vielleicht mit Haueisens letzten Worten etwas anfangen.“

***

„Möglicherweise hat Goethe ja gar nicht ‚Mehr Licht’ gesagt, sondern am Ende seines Lebens einfach nur die lapidare Frage gestellt: ‚Mehr nicht’?“
Eine solche Antwort hatte Reimer nicht erwartet. Er fand es zumindest merkwürdig, dass Professor Dr. Harald Scholl in Anbetracht der ernsten Umstände zum Scherzen aufgelegt war.
„Ein alter Kalauer unter unseren Germanistikstudenten“, fuhr der attraktive Professor mit den grau melierten Locken unbeirrt fort.
„Es ist übrigens sogar umstritten, ob Goethe diese Worte überhaupt ausgesprochen hat, da der Hausarzt, der sie für die Nachwelt schriftlich festhielt, sich zu dem fraglichen Zeitpunkt gar nicht im Sterbezimmer des großen Dichters befand und es ihm nur erzählt wurde.“
„Könnten Sie sich vorstellen, dass ‚Mehr Licht’ vielleicht auch ein verschollenes Werk Goethes ist, das Ihr Kollege Haueisen entdeckt hat? Und dass er diese Information vor seinem Tod unbedingt noch mitteilen wollte?“
„Zuzutrauen wäre es ihm. Ich an seiner Stelle hätte sicher eher den Namen des Mörders genannt. Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen: Es kursiert tatsächlich seit ewigen Zeiten das Gerücht, dass Goethe in seinen letzten Lebensjahren nicht nur Faust II fertig gestellt habe, sondern noch ein anderes literarisches Werk. Es gibt Verfechter der These, dass er es geheim gehalten habe, weil es die Machenschaften der Mächtigen seiner Zeit an den Pranger stellte und deshalb erst nach seinem Tod veröffentlicht werden sollte. Das wäre insofern verständlich, als er ja als Geheimrat im Staatsdienst war und Pflichten als Regierungsrat am herzoglichen Hof hatte.“
„Sie halten die Existenz eines solchen Manuskriptes also für möglich …?“
Scholl räusperte sich. „Im Prinzip schon. Ich muss sogar zugeben, dass auch ich diesem ‚Goethe-Fieber’ eine Zeit lang verfallen war und einige Jahre mit Professor Haueisen in dieser Angelegenheit recherchiert habe. Allerdings ohne Erfolg. Also wenn Sie mich fragen: Gäbe es ein solches Werk, hätte man es längst gefunden! Aber mein werter Kollege Haueisen war so besessen von der Idee, dass er für dieses Argument taub war.“
„Mal angenommen, Ihr Kollege Haueisen hätte kurz vor seinem Tod tatsächlich ein Spätwerk Goethes ausgegraben …?“
Scholl stutze. „Das wäre in der Fachwelt natürlich eine absolute Sensation. Ein Werk von unschätzbarem Wert. Die ganzen Biografien müssten überarbeitet werden. Aber wie gesagt: Ich glaube nicht an diese Theorie und fürchte, dass mein werter Herr Kollege – sollte man ihm ein solches Werk angedient haben – sicher einem Betrug aufgesessen ist.”
„Sagt Ihnen in diesem Zusammenhang der Name Clausnitzer etwas?“
„Clausnitzer? Nein, nicht, dass ich wüsste. Warum fragen Sie?“
„Laufende Ermittlungen. Kann ich Ihnen im Moment leider nicht sagen. Aber kommen wir zurück auf Ihren toten Kollegen.
Wie erklären Sie sich, dass Haueisen ausgerechnet ermordet wurde, als er glaubte, am Ziel seiner Suche zu sein?“
„Ein dummer Zufall, wenn sie mich fragen. Menschen werden wegen der unterschiedlichsten Dinge umgebracht – manchmal wegen ein paar lumpiger Euro. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es zwischen Haueisens Ermordung, die ich natürlich sehr bedaure, und diesem angeblichen ‚Goethe-Werk’ einen Zusammenhang gibt. Aber vielleicht weiß ja Professor Dr. Zanger mehr.“ Scholl deutete auf einen etwas griesgrämig aussehenden Mann im grauen Anzug, der den Flur entlang schlurfte. “Zanger weiß grundsätzlich alles besser.“
„Ihr Kollege scheint ja nicht gerade beliebt zu sein.“
Zanger braucht niemanden, der ihn liebt. Der ist sich selbst genug.“
Reimer bedankte sich und ging schnell auf diesen Professor Zanger zu, um ihm seine Dienstmarke unter die Nase zu halten.

„Ein verschollenes Goethe-Werk, das angeblich die Mächtigen seiner Zeit an den Pranger stellt? Wer behauptet denn so etwas?“ fragte Zanger abfällig, nachdem ihm Reimer den Anlass seiner Befragung genannt hatte. Der Professor hatte ein graues Eichhörnchengesicht mit passenden Knopfaugen hinter einer Hornbrille und musterte den Ermittler unfreundlich.
„Ihr Kollege, Herr Dr. Scholl, hat von dieser Theorie zumindest schon gehört …“
Professor Zanger sagte nichts, blickte nur geringschätzig in die Richtung, in die sein Kollege gerade verschwunden war.
„Man muss sich doch immer wieder wundern. Ein solches Werk ist schlichtweg undenkbar. Das wäre damals eine offene und gefährliche Auflehnung gegen die Staatsgewalt gewesen. Schiller war revolutionär gesinnt, wahrscheinlich auch Liszt, aber doch nicht unser altehrwürdiger Geheimrat Goethe, der sich zeitlebens die größten Verdienste im Staatsdienst erworben hat und mit Stolz seinen Adelstitel trug.“
„Immerhin lebten alle in der gleichen Zeitspanne …“, warf Reimer nicht ohne Stolz ein. Aus aktuellem Anlass hatte er gestern Abend im Internet die Biografie Goethes und dessen Zeitgenossen ausgiebig studiert und war selbst überrascht gewesen, was in den letzten Lebensjahren Goethes in der Welt alles passiert war. Da Goethe 1832 gestorben war – also vor genau 180 Jahren – hatte er sogar noch die Junirevolution in 1830 in Paris mitbekommen.

Professor Dr. Zanger zeigte sich jedoch wenig beeindruckt: „Ist ja schön, dass die Polizei, neuerdings sogar in die Tiefen der deutschen Kultur einsteigt, um ihre Mörder zu finden.“
„Wir hätten nichts gegen fachkundige Hilfe einzuwenden, Herr Professor …“
„Tut mir leid. Von Mördersuche verstehe ich nichts“, sagte Zanger ohne die Spur von Humor. „Im Übrigen muss ich jetzt zu meiner Vorlesung. Wenn Sie noch Fragen haben, wenden Sie sich doch bitte an mein Sekretariat.“

***

Liebevoll restaurierte Häuser, historische Gässchen und Plätze mit abgetretenem Kopfsteinpflaster – Reimer mochte die Weimarer Altstadt auf Anhieb. Er war vom Polizeipräsidium aus sehr früh in Frankfurt losgefahren und mit seinem Dienstwagen – einem silberfarbenen 3er BMW – ohne Stau durchgekommen. Eigentlich hatte er jetzt noch etwas Zeit, um sich auszuruhen oder etwas zu unternehmen, bevor er den Weimarer Kollegen seinen angekündigten Besuch abstatten würde.

Reimer – heute im Hemd mit vielen bunten Flugzeugprints und dunkler Sonnenbrille – fiel in der Touristeninformation überhaupt nicht auf. Der Frankfurter Ermittler ließ sich von er freundlichen jungen Dame einen Plan mit den Sehenswürdigkeiten der Stadt geben, den er neben seinen Rucksack auf die Kühlerhaube seines Wagens legte und ausgiebig studierte. Er trank noch einen Schluck aus der Wasserflasche. Dann startete er seine kleine Runde, die ihn an dem großen, gelben Haus am Frauenplan vorbeiführte, wo Goethe fünfzig Jahre lang gelebt hatte. Er spazierte weiter durch den Park an der Ilm zu dem Gartenhaus Goethes, das ihn besonders interessierte.
Da das Gartenhaus als Museum eingerichtet war, konnte man es auch innen besichtigen. Reimer lief durch das Erdsälchen – eine altertümliche Bezeichnung für das Speisezimmer. Er sah sich das multifunktionale Stehpult an, an dem so manches Gedicht entstanden war, und bewunderte im Schlafzimmer das zusammenklappbare Reisebett, auf dem Goethe geschlafen hatte. Dort hingen auch drei Zeichnungen, die Goethe „meine Mondscheine“ genannt hatte. Leicht amüsiert erfuhr Reimer, dass Goethe zum Entsetzen seiner Zeitgenossen bei Mondschein des Öfteren ein kühles Bad im Fluss genommen hatte – und das auch noch nackt. Für die damalige Zeit ein außergewöhnliches Treiben!

Reimer sah auf die Uhr. Er musste den Rückweg antreten, wenn er pünktlich um elf im Kommissariat sein wollte.
Neben einem deftigen Frühstück mit Thüringer Wurst und eingelegten Gurken erhielt er von seinen Weimarer Kolleginnen und Kollegen eine Akte in die Hand gedrückt. Sie enthielt unter anderem die Kopie des Totenscheins sowie ein Protokoll über die Befragung einer Nachbarin, die Freiberg hieß. Sie hatte sich die letzten Jahre um den alten Clausnitzer gekümmert. Clausnitzers Ehe war kinderlos geblieben, seine Frau schon vor Jahrzehnten gestorben. Das Protokoll gab wenig her. Also machte Reimer sich auf den Weg, um diese Frau selbst zu befragen.

Erika Freiberg schien auf ihn gewartet zu haben. Zumindest lehnte die Frau mittleren Alters, die für ihr Gewicht etwas zu klein geraten war, im Fensterkreuz ihrer Altbauwohnung im ersten Stock – alles kontrollierend, was in ihrer Straße vor sich ging. Sie hatte neben ihrer Neugier auch etwas freundlich Verbindliches. Und wenn sie lächelte, zeigten sich nette Grübchen um ihren Mund.
„Ja, ja, so schnell kann es gehen“, meinte Frau Freiberg bedauernd. „Am Abend davor war er noch richtig aufgekratzt. Er hat sogar eine Flasche Meisner Wein aufgemacht und mit mir angestoßen.“
„Hat er gesagt warum?“ Reimer wurde hellhörig.
„Er sagte, er hätte heute einen Telefonanruf bekommen, der für ihn sehr positiv war, und wolle das jetzt mit mir feiern. Er sprach sogar davon, dass er – wenn alles klappt – doch noch die Italienreise machen würde, von der er immer geträumt hat. Und jetzt liegt der alte Clausnitzer in der Leichenhalle und wird heute Nachmittag beerdigt.“
„Haben Sie mitbekommen, ob Clausnitzer an diesem Abend noch weiteren Besuch hatte? Ich meine nach Ihnen.“
„Nein, mein Schlafzimmer geht nach hinten raus. Aber jetzt, wo Sie das so sagen: Gewundert habe ich mich, dass auf dem Tisch zwei Weingläser standen, obwohl ich am Abend mein Glas gewaschen und zurück in den Schrank gestellt hatte. Aber als ich den Alten tot in seinem Bett fand, war ich ja auch erst einmal ganz durcheinander. Merkwürdig war auch, dass der Clausnitzer noch komplett angezogen war. Ich dachte, vielleicht ist ihm schlecht geworden, und er hat es gerade noch in sein Bett geschafft.“
„Kann ich das Schlafzimmer mal sehen?“
„Wenn Sie wollen … Ich habe noch einen Schlüssel. Sie sind schließlich von der Polizei. Warten Sie einen Moment.“

Kurz darauf folgte Reimer Frau Freiberg zum Nachbarhaus. Sie ging vor und öffnete das Gartentörchen. Dabei erzählte sie munter weiter: „Keiner weiß so recht, was jetzt mit dem Haus passieren soll. Bis jetzt haben sich keine Verwandten gemeldet. Die Beerdigung muss auch noch bezahlt werden. Aber das hat der Clausnitzer angeblich geregelt.“
Frau Freiberg schloss auch die Holztür des kleinen alten Hauses auf, in dessen Türbogen die beeindruckende Jahreszahl 1819 stand.
Reimer trat ein und war überrascht, wie schlicht die engen Kammern eingerichtet waren. Teilweise fühlte er sich an das eben besichtigte Gartenhaus Goethes erinnert. Auch hier schien im Laufe der Jahre nicht viel verändert worden zu sein. Nur ein großer Fernseher und ein automatisch verstellbarer Ledersessel im Wohnzimmer zeugten vom Luxus der Neuzeit. „Wissen Sie übrigens etwas von einem Brief, den Clausnitzer vor knapp einer Woche an einen Professor in Frankfurt geschickt hat?“
„Aber ja, den habe ich für ihn eingeworfen. Der ging an einen Professor, Haueisen, wenn ich mich recht erinnere. Habe dem alten Clausnitzer sogar noch eine Briefmarke ausgelegt.“
Das wäre also geklärt, registrierte Reimer und folgte Frau Freiberg über die schmale, knarrende Stiege in das Schlafzimmer. Kammer wäre für diesen kleinen und nur mit einem winzigen Fenster ausgestatteten Raum die treffendere Bezeichnung gewesen.

„Was ist denn hier passiert?“ fragte Reimer und deutete auf die angefangene Baustelle links vom Bett. Die Wand war aufgebohrt, der Putz abgebröckelt. Davor stand ein neuer Heizkörper etwas schief im Raum, der fast vollständig durch eine große Plastikplane verdeckt war.
„Ach, hören Sie auf!“ empörte sich die Freiberg. „Clausnitzer wollte auf seine alten Tage hier noch eine Elektroheizung installieren. Eine Schweinerei haben die Handwerker gemacht, und dann hat der Clausnitzer sie einfach unverrichteter Dinge wieder heimgeschickt. Manchmal war er auch etwas komisch im Kopf.“
Reimer riss die Plastikplane herunter, was ihm einen vorwurfsvollen Blick von Frau Freiberg einbrachte, weil dabei wieder Putzbröckchen auf den frisch gebohnerten Holzboden fielen. Der Ermittler schob den Heizkörper, der noch nicht installiert war, ein Stück zur Seite. Jetzt konnte man dahinter eine Nische in der Wand sehen.

„Wissen Sie, was das ist?“ fragte Reimer und fasste in die leere Maueraussparung, die ca. 30 auf 30 cm groß und ebenso tief war.
„Nee, komisch. Soweit ich mich erinnern kann, war da immer eine eingemauerte Steinplatte an der Wand. So ein behauenes schwarzes Ding mit ganz vielen Sonnen und Monden darauf.“
Reimer war wie elektrisiert. War das ein Versteck, das Clausnitzer wegen der Handwerker durch Zufall hinter dieser Steinplatte entdeckt hatte? Hatte er hier etwas gefunden, was ihn den Brief an Professor Haueisen hatte schreiben lassen? Ein Goethewerk? Schließlich hatte der Dichter eine ganz besondere Beziehung zum Mond und sicher auch zur Sonne. Das würde also passen. Aber wo war diese schwarze Steinplatte geblieben? Im Raum befand sie sich auf jeden Fall nicht und auch nicht in dem kleinen Fachwerkhaus, das sie zusammen absuchten.

Konnte man jetzt noch an den Zufall glauben, dass Clausnitzer einen Tag nach dem Mord an Haueisen eines natürlichen Todes gestorben war?
Die Verdachtsmomente reichten aus, um nach Rücksprache mit Bernsdorfer und dem Leiter des Weimarer Kommissariats beim zuständigen Staatsanwalt die Obduktion Clausnitzers zu beantragen. Deshalb fand die Trauerfeier am späten Nachmittag ohne Leiche statt. Ohnehin waren nur Frau Freiberg und ihre Familie, eine weitere Nachbarin, ein Vertreter der Stadt und Reimer anwesend. Die Hoffnung des Ermittlers, hier auf einen Verwandten Clausnitzers zu treffen, erfüllte sich nicht.

Reimer war auch bei der Obduktion dabei, die am nächsten Tag durchgeführt wurde. Äußere Gewaltanwendungen waren nicht zu erkennen, sah man von blauen Flecken am linken Handgelenk ab. Laut erstem Obduktionsbericht war der 84-jährige Mann jedoch nicht an Herzversagen, sondern an einer Überdosis Insulin gestorben. Dies, obwohl er nicht zuckerkrank war, wie der Hausarzt mitteilte.

Also Mord? Aber wer hatte ihn getötet und warum? Musste auch er wegen Goethes letzten Werks sterben?

Ein ziemlich verzwickter Fall. Vergangenheit und Gegenwart vermischen sich hier mörderisch. Erst jetzt wird es so richtig interessant … willst du wissen, was hinter dem merkwürdigen Ableben des Professors steckt? 

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