Karierte Seele

Von regionaler Aktualität bis zu märchenhaften Mythen, von purer Spannung bis zu zarter Liebe, von sympathischer Bodenständigkeit bis hin zu mitreißender Magie -
'Karierte Seele' verspricht viel Lesevergnügen.

Die 15-jährige Nenja verliert auf tragische Weise ihre Mutter. Ihrer Tochter hinterlässt Sandra Merck einen Brief, in dem sie ihr mitteilt, dass ihr vermeintlich verstorbener Vater nicht ihr leiblicher war. Nenja ist besessen davon ihren richtigen Vater zu finden. Sie reißt von zu Hause aus, als sie erfährt, dass sie in einem Heim untergebracht werden soll. Ein sehr abenteuerlicher und gefährlicher Weg führt sie auf die griechische Insel Korfu und dort zu Barbara van Heyden, einer Holländerin, die sich um herrenlose Tiere kümmert. Sie bietet Nenja einen Job und Unterkunft an.

Auf ihrer Reise nach Korfu begegnet Nenja einem alten Mann, der ihr einen Zauberstein schenkt – Smargál. Das Mädchen hat drei Wünsche frei, die ihr der Stein angeblich erfüllt. Nenja hält den Alten, Malrok, für verrückt und glaubt nicht an den Zauber. Allerdings muss sie feststellen, dass der erste ausgesprochene Wunsch tatsächlich in Erfüllung geht und ihr in einer ausweglosen Situation das Leben rettet.

In der Geschichte von Nenja triffst du alte Bekannte aus ‚Blonde Augen’ wieder. Die Dagni sind an dem Mädchen mehr als interessiert, denn es gibt eine Verbindung zu ihnen, die im Laufe des Buches immer offensichtlicher wird.
Die Geschichte spielt in den altbekannten Orten Hofheim und Merlheim im Taunus, sowie auf der griechischen Insel Korfu.

Das Buch ist zwar in sich abgeschlossen und kann für sich alleine gelesen werden.
Doch baut es letztendlich auf ‚Blonde Augen’ und seine Akteure auf. Von daher findest du hinten im Buch eine kurze Zusammenfassung von ‘Blonde Augen’. Für alle, die sich einen Überblick verschaffen wollen oder die sich noch einmal kurz an die Geschehnisse zurück erinnern möchten.

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Ebook:
Karierte Seele – Taunusroman
ASIN: B07H6Z9GS7
• Format: Kindle Edition
• Verkauf: Amazon Media EU S.à r.l.
• Preis: 3,99 € oder kostenlos als Kindle unlimited Version
• Dateigröße: 1814 KB
• Erscheinungsdatum: Sept. 2018 (neu überarbeitet)
• TauRom-Verlag
• Website: die-autorenecke.de
•  Mail: schmitt@die-autorenecke.de 

Taschenbuch:
Karierte Seele – Taunusroman
• ISBN: 978-3746764474
• Seiten: 224
• Gebundener Ladenpreis: 9,99 €
• Text: Copyright © 2010 by Marion Schmitt
• Fotos: Copyright © by Caro Rubach
• Erscheinungsdatum: 2011
• Überarbeitete 2. Auflage: September 2018
• Druck: epubli GmbH, Berlin
• TauRom-Verlag
• Website: die-autorenecke.de
• Mail: schmitt@die-autorenecke.de

Leseprobe aus Karierte Seele:

– Kapitel 1 –

„Irgendwie muss das doch machbar sein“, dachte Nenja verzweifelt und grübelte zum hundertsten Mal über ihr schwerwiegendes Problem nach. Sie war nicht der Typ, der vorzeitig aufgab. Sie versuchte immer ihr Ziel zu erreichen. Aber hier schien sie mit ihrem Latein am Ende zu sein, denn es wollte ihr einfach keine praktikable Lösung einfallen.
„Elender Mist, verdammter!“, fluchte sie halblaut vor sich hin. Normalerweise benutzte die immer sanfte Nenja kaum Kraftausdrücke, aber diese verpasste Gelegenheit entlockte ihr die deftigen Worte aus vollem Herzen.
„Was ist denn in dich gefahren?“, fragte Lilli, ihre beste Freundin, die ihr in dem kleinen, gemütlichen Café in der Altstadt des Taunusstädtchens Hofheim gegenüber saß und begeistert auf ihrem neuen Handy herum tippte.
„Ach, nichts“, winkte Nenja ab und wechselte geschickt das Thema, indem sie die Freundin auf ihre neuste technische Errungenschaft ansprach. Sie wusste ganz genau, dass es für Lilli im Moment nichts Interessanteres gab – und sie hatte recht. Lilli sah erfreut zu ihr hinüber und fing postwendend an, die Vorteile und Besonderheiten ihrer Neuerwerbung zu erklären.

Nenja hörte ihrer Freundin allerdings nur mit halbem Ohr zu, denn sie konnte nicht verhindern, dass ihre Gedanken noch immer Purzelbäume schlugen und fieberhaft nach einer Lösung für ihr eigenes Problem suchten. Plötzlich strahlte sie und rief: „Ich hab’s!“
Lilli verstummte mitten im Satz und sah ihr Gegenüber beleidigt an. „Na, mein Handy scheint dich ja wahnsinnig zu interessieren. Warum fragst du denn danach, wenn du mir eh nicht zuhörst?“ Lilli war sauer. Aber dann siegte die Neugierde. „Was hast du?“, fragte sie deshalb und schaute noch etwas mürrisch, aber gleichzeitig auch gespannt zu Nenja.

***

Es war zwar erst Ende Juni, aber die ungewöhnliche Hitze der letzten Tage hatte allen Mitarbeitern der Werbe- und Organisationsberatung SaMe zugesetzt. Obwohl Sandra Merck, die Chefin des jungen Unternehmens, mehrere tragbare Ventilatoren aufgestellt und ihr Team mit Wasser und Obst versorgt hatte, war die sonst so geschäftige Atmosphäre einem eher trägen Vorsichhinleiden gewichen. Keiner der Mitarbeiter hatte große Lust sich den Kopf über werbewirksame Feinheiten zu zerbrechen, während die heiße Sonne ihre geballte Kraft in die nach Süden hin gelegenen Büros warf.
Vor zwei Jahren, als Sandra die Räume anmietete, hatte sie versucht auf alles zu achten – nur Hitzewellen in Südlage ohne Jalousien vor der großen Fensterfront hatte sie nicht bedacht. Und das rächte sich in diesem Jahr besonders.

Sandra hatte, wie so oft in den letzten Wochen, starke Kopfschmerzen und konnte sich nicht konzentrieren. Außerdem war die wirtschaftliche Lage nicht gerade auf dem Höhenflug und die Auswirkungen bekam auch ihre kleine Werbefirma zu spüren. Die Arbeit hielt sich von daher in Grenzen, deshalb verkündete die Chefin aus einer Laune heraus: „Feierabend, Herrschaften! Geht ins Schwimmbad oder in den kühlen Keller, aber heute gibt’s Hitzefrei! Ich mag auch nicht mehr.“ Entschlossen fuhr sie ihren Computer herunter und stand auf. So ein kleines bisschen fühlte sie sich in ihre Schulzeit zurückversetzt, in der das Wort Hitzefrei immer großen Jubel ausgelöst hatte.
Plötzlich kam Leben in die vier Frauen und Männer, die vor ihren Schreibtischen schwitzten. Nicht nur in der Schule sorgte das Hitzefrei für spontan bessere Laune. Innerhalb von zehn Minuten war das Büro menschenleer, ebenso, wie die für die Firma SaMe reservierten Parkplätze vor dem mehrstöckigen, modernen Gebäude in Hofheim-Nord.

Sandra fuhr in ihrem knallroten, uralten BMW-Cabrio, das sie heiß und innig liebte, in die Stadt hinunter und parkte auf dem historischen Kellereiplatz gegenüber vom Chinon-Center, dem Einkaufszentrum des Taunusstädtchens. Dort stieg sie aus und spazierte langsam an den Arkaden vorbei in die nur wenige Meter entfernte Innenstadt, um sich an einen der wenigen noch freien und schattig gelegenen Tische im Venezia zu setzen.
Durch das kühle Eis, das sie sich bestellt, und die zwei Kopfschmerztabletten, die sie noch schnell im Büro genommen hatte, sah die Welt nun schon etwas freundlicher aus. Sandra seufzte auf, schob ihre Sonnenbrille zurecht und beobachtete die vorbei hastenden Menschen. Sie genoss den fruchtigen Erdbeerbecher mit Sahne und beschloss, den Luxus dieses spontan freien Nachmittags zu genießen.

Die einundvierzigjährige blonde Frau mit den himmelblauen Augen und den netten Grübchen bot einen attraktiven Anblick in ihrem luftigen Outfit. Das jedenfalls stellte nicht nur der Kellner fest, sondern auch der eine oder andere männliche Gast des direkt am Anfang der Fußgängerzone gelegenen italienischen Eiscafés. Aber Sandra interessierte sich nicht für die Blicke die ihr, mehr oder weniger diskret, zugeworfen wurden und hatte keinerlei Interesse an einem Flirt.

Als ihr Handy sich mit einem alten Rocksong von Queen bemerkbar machte, kramte sie in ihrer großen Handtasche herum, bis sie den Unruhestifter gefunden hatte. Sie meldete sich, hörte kurze Zeit zu und wurde kreidebleich.

***

Lilli bekam große Augen, als die Freundin sie in ihren Plan einweihte. „Das kannst du doch nicht bringen!“, stammelte sie, aber Nenja wirkte so, als meine sie durchaus ernst, was sie da sagte.
„Du spinnst“, stellte Lilli nüchtern fest. „Das klappt niemals!“
„Warum denn nicht? Wer nicht wagt, der nicht gewinnt!“ Nenja grinste wie ein Honigkuchenpferd. „Was kann denn schon groß passieren? Ich habe keine Angst auf Corry zu steigen. Okay, er ist ziemlich schwierig, das gebe ich ja zu. Aber ich komme schon mit ihm klar. Und stell dir doch mal vor – ich auf Corry bei der Fuchsjagd. Das wäre einfach … genial!“
„Aber deine Mutter hat es dir, nach deinem letzten Sturz von diesem Pferd, strikt verboten! Du kannst doch jetzt nicht einfach ihre Unterschrift fälschen! Vergiss es!“
„Ich kann ihre Unterschrift perfekt nachmachen – weißt du noch, als ich die fünf in Mathe geschrieben habe?“
„Mensch Nenja, ich hab damals schon die Luft angehalten, aber das hier, das wäre doch richtiger Betrug und kommt bestimmt raus! Und dann kriegst du jede Menge Ärger!“ Lilli sah ihre Freundin skeptisch an.

Stefan, der Besitzer des Hengstes, den Nenja manchmal reiten durfte, hatte seine Pferde in Lorsbach stehen. Der Reiterhof Georg am Ortseingang des idyllisch im Grünen gelegenen kleinen Dorfes lag direkt am Waldrand und man konnte von hier aus herrliche Ausritte unternehmen.
Nenja ließ Stefan keine Ruhe, bis er ihr versprochen hatte, sie mit Corry bei der großen Fuchsjagd im Herbst zu melden. Da der prachtvolle Hengst aber wirklich schwer zu händeln war und seinen Reiter manchmal in recht gefährliche Situationen bringen konnte, wollte sich Stefan absichern und bestand auf eine schriftliche Einverständniserklärung von Nenjas Mutter, die das Mädchen allerdings niemals bekommen würde.
Aber Nenja liebte Corry, obwohl er sie bereits des Öfteren schmerzhaft auf den Boden der Tatsachen befördert hatte und sie hatte sich nun mal in den Kopf gesetzt, mit genau diesem Pferd die Fuchsjagd zu reiten. Vielleicht klappte es ja doch, dank ihrer brillanten Idee mit der gefälschten Unterschrift.

Sie diskutierte mit Lilli noch eine ganze Weile ihre verrückten Pläne, konnte die ängstliche Freundin aber nicht wirklich überzeugen.
„Das kommt raus und deine Mutter wird verdammt sauer auf dich sein.“
„Ach was, das kriege ich später schon wieder hin! Mama kann gar nicht lange böse auf mich sein!“ So herrlich jugendlich naiv konnte nur eine Fünfzehnjährige denken.
„Mein Gott, jetzt mach mal halblang. Die Jagd findet doch erst in ein paar Monaten statt. Wer weiß, was bis dahin noch alles passieren wird!“, orakelte Lilli und konnte nicht ahnen, auf welch fatale Weise sie Recht behalten sollte.

***

Nachdem Sandra ihr Handy vom Ohr genommen und ausgedrückt hatte, war sie nur noch ein Schatten ihrer selbst. Die eben noch zufrieden aussehende Frau schien um Jahre gealtert. Selbst dem Kellner fiel die Veränderung auf und er fragte, ob es ihr gut ginge oder er irgendetwas für sie tun könne. Doch Sandra schüttelte nur stumm den Kopf, kramte einen zerknüllten Zehneuroschein aus ihrer Tasche, drückte dem noch immer an ihrem Tisch stehenden Mann das Geld in die Hand und sprang auf, um eilig davon zu hasten. Über die Hälfte ihres Eisbechers hatte sie stehen lassen.

Als sie endlich vor dem Eingang des großen Krankenhauses in Bad Soden stand, wusste sie nicht, wie sie die Strecke von Hofheim bis hierher unfallfrei hinter sich gebracht hatte. Sie lief eilig zum Treppenhaus und die Stufen zum zweiten Stockwerk hinauf. Vor der Tür des Sekretariats von Chefarzt Dr. Holzner blieb sie kurz stehen und atmete tief durch, bevor sie zaghaft anklopfte.
„Oh hallo, das ging ja schnell, Frau Merck“, wurde Sandra freundlich von der Sekretärin ihres Gynäkologen begrüßt. „Bitte nehmen Sie noch ein paar Minütchen draußen Platz. Der Herr Doktor wird gleich Zeit für Sie haben.“
Da das Telefon klingelte und die arbeitsame Frau sofort abhob und sich meldete, blieb Sandra nichts anderes übrig, als wortlos zu nicken und die Tür wieder hinter sich zuzuziehen. Sie ließ sich mit klopfendem Herzen gegenüber im Flur auf einen der harten Stühle sinken und musste sich eingestehen, dass ihr regelrecht schlecht vor Angst war.

Wie oft hatte sie in den letzten Wochen schon hier gesessen und die farbenfrohen Fotos, auf denen Kinder aus der ganzen Welt abgebildet waren, angestarrt. Aber solch eine Furcht wie heute hatte sie noch nie.

– Kapitel 2 –

In Merlheim, einem kleinen Dorf im Hintertaunus, lief das Leben seinen Gang. Seit die Zwillinge Dagni und Kerk vor einem knappen Jahr auf die Welt gekommen waren, hatte sich Jessis Alltag von Grund auf geändert. Die junge Mutter hatte fast rund um die Uhr alle Hände voll zu tun, um ihre beiden Sprösslinge zu verwöhnen. Jessica Weiland, die inzwischen Frau Becker geworden war, konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als ihr Leben, so wie es momentan war.
Eigentlich hatte Jessi sich ihre Zukunft ganz anders ausgemalt. Sie wollte Karriere als Fotografin machen oder bei ihrem Vater in die Zeitungsredaktion des Hofheimer Kurier einsteigen, aber das Schicksal hatte etwas anderes mit ihr vorgehabt – und sie war mit dem Ergebnis mehr als zufrieden.

Im letzten Jahr hatte sie hunderte von wundervollen Babyfotos geschossen und war gerade dabei, die interessantesten in einem Buch zusammenzustellen und zu veröffentlichen. Es hatte sich tatsächlich ein renommierter Verlag gefunden, dem die ungewöhnlichen Bilder gefielen und der Jessi ein recht gutes Angebot gemacht hatte. Außerdem fotografierte und schrieb sie ab und zu für die Zeitung ihres Vaters, um in Übung zu bleiben.
Und da war auch noch Paul, ihr seit vier Wochen angetrauter Ehemann und ihre Freunde Laura, Simon, Julia und Tom. Und natürlich der Zirkel … langweilig wurde es Jessi jedenfalls keine Sekunde in ihrem neuen Leben.

Dag und Kerk schliefen und Jessi hatte ein Stündchen Zeit, um auf ihrer Terrasse zu sitzen, eine Tasse Kaffee zu trinken und die Ruhe zu genießen, die ihr die herrliche Hügellandschaft, auf die sie blicken konnte, bot.
Ihre Gedanken schweiften in die Vergangenheit, als sie überstürzt aus New York nach Hause zurückgekommen war. Was hatte sie seit damals, in diesen knapp drei Jahren, alles erlebt – Wahnsinn! Aber nun war sie angekommen. Jessi seufzte zufrieden, schloss ihre Augen und ließ sich von der sanften Brise durch die blonden Haare streicheln.

Erst als ihr Handy auf dem Tisch anfing vor sich hin zu brummen, öffnete Jessi unwillig die Augen und kehrte aus ihrer Traumreise zurück in die Gegenwart. Als sie auf dem Display das Foto ihres Vaters sah, lächelte sie allerdings und flötete übermütig „Hallo Daddy“ in den Hörer.

***

Sandra strich sich nervös mit den Fingern durchs Haar. Sie hatte das Gefühl, schon stundenlang zu warten, dabei waren gerade Mal zehn Minuten vergangen, bis sie in das große Arztzimmer gerufen wurde. Sie begrüßte Dr. Holzner und nahm ihm gegenüber vor dem Schreibtisch Platz.
„Frau Merck, schön, dass Sie so schnell kommen konnten. Wie ich Ihnen am Telefon schon angedeutet habe, sehen Ihre letzten Untersuchungs- und Blutergebnisse leider …“, er stockte etwas, fuhr dann aber sanft fort, „ziemlich schlecht aus. Entschuldigen Sie meine Offenheit, aber …. Ich erkläre Ihnen am Besten, was genau in Ihrem Körper passiert, dann können wir zusammen nachdenken, was wir tun. Einverstanden?“
Sandra nickte beklommen.

Vor etwa vier Monaten war sie zu der regelmäßigen gynäkologischen Vorsorgeuntersuchung gegangen. Sie erwartete, wie immer, nichts mehr nach ihrem Arztbesuch zu hören und damit die Bestätigung zu bekommen, dass alles in Ordnung sei. Doch diesmal war es anders. Nur drei Tage nach ihrem Termin bei Dr. Holzner erhielt sie einen Anruf aus der Klinik und einen neuen Termin gleich am nächsten Morgen. Ängste, von denen sie nicht ahnte, dass es sie gibt, durchströmten ihren Körper mit jedem Atemzug. Es fiel ihr ausgesprochen schwer, sich ihren Mitarbeitern und vor allem ihrer Tochter gegenüber halbwegs normal zu verhalten. Aber bevor sie selbst nichts Genaues wusste, wollte sie niemanden verrückt machen. Allerdings konnte sie nicht verhindern, dass ihre Gedanken eigene Wege gingen, die alle im Chaos endeten.
Es sollte sogar noch schlimmer kommen, als sie befürchtet hatte, denn Dr. Holzner eröffnete ihr behutsam und trotzdem konsequent offen, dass bei ihr ein höchst aggressiver Tumor diagnostiziert worden sei. Trotzdem brachte er es fertig, den Sachverhalt so darzustellen, dass Sandra nicht gleich panisch wurde, sondern mit einer gewissen Hoffnung nach Hause gehen konnte.
Natürlich waren weitere Untersuchungen notwendig, aber nach dem anfänglichen Schock siegte ihr Optimismus und sie war felsenfest davon überzeugt, dass sie die Krankheit mit Hilfe ihres Arztes in den Griff bekommen würde. Sie sprach mit niemandem über ihre Sorgen und betrieb in den folgenden Wochen eine regelrechte Vogel-Strauß-Politik. Sie beherzigte die Anweisungen Dr. Holzners zwar weitgehend und ließ keine Untersuchung aus, schuf sich aber trotzdem eine Art Scheinwelt, in der sie ganz normal lebte, arbeitete und in der es definitiv keine Krankheit gab. Bis eben zu jenem Anruf heute, der sie mit Macht in die Realität zurückgeschleudert hatte.

Dr. Holzner versuchte Sandra ohne lateinische Fachausdrücke zu erklären, dass er selten einen sich so rasch entwickelnden Krebs diagnostizieren musste. Bei der letzten MRT wurde festgestellt, dass sich bereits Metastasen in verschiedenen Organen festgesetzt hatten. Eine Operation hielt er als Arzt zwar für notwendig, aber als Mensch konnte er Sandra keine Hoffnung mehr machen. So einfach war das.

Die leichenblasse Frau brachte minutenlang kein Wort heraus. Natürlich hatte der Arzt ihr in den letzten Wochen bereits mehrfach nahegelegt, sich operieren zu lassen, doch Sandra hatte davon nichts wissen wollen. Sie lebte sehr gut in ihrer Scheinwelt, in der es keine Krankheiten gab.
Aber so klar und offen hatte Dr. Holzner auch noch nie mit ihr gesprochen. Oder hatte sie die dringenden Warnungen einfach nur nicht hören und realisieren wollen? Mit etwas Glück, noch ein Vierteljahr, hatte der Arzt gesagt …
Drei Monate – unvorstellbar! Sie spürte doch kaum Schmerzen und fühlte sich halbwegs wohl. Wieder wollte sie in ihre Scheinwelt abtauchen, doch die Realität verweigerte ihr diese Hilfe. Die glasklaren Worte des Arztes ließen sich nicht mehr beschönigen. Sie würde sterben. Mit einundvierzig Jahren.
Sie gab zum ersten Mal vor sich selber zu, dass die Schwäche, die Schmerzen, die Schwindelgefühle und all die anderen Unpässlichkeiten, wie sie die Symptome versuchte vor sich selbst lächerlich zu machen und zu verharmlosen, in der letzten Zeit drastisch zugenommen hatten.
Ein Vierteljahr noch, hatte der Arzt gesagt … wenn sie Glück hatte!

***

Als Nenja und Sandra eine knappe Stunde später zu Hause aufeinander trafen, bemerkte das feinfühlige Mädchen sofort, dass mit der Mutter irgendetwas nicht stimmte. Vergessen waren die verwegenen Pläne, an denen sie nachmittags mit Lilli herum gefeilt hatte.
„Mensch, Mama, du siehst ja aus, als hättest du ein Gespenst getroffen. Was ist denn los?“, wollte Nenja wissen und hatte plötzlich ein ganz und gar ungutes Gefühl.
Sandra drehte sich zu ihrem großen Mädchen um und konnte es nicht verhindern, dass ihr die Tränen in die Augen schossen.
„Komm zu mir, meine Süße“, stieß sie unter leisem Schluchzen mühsam hervor und nahm ihre Tochter verkrampft in die Arme. Nenja hatte das Gefühl, dass sich ihre Mutter an ihr festhielt. Sie blieb ganz ruhig stehen und streichelte der verzweifelt weinenden Frau immer wieder tröstend über den Rücken.
So hatte sie ihre Mama noch niemals erlebt und dem Mädchen schnürte sich vor lauter Nervosität der Hals zu.

Nenja wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis das Schluchzen langsam abebbte und Sandra sich zögernd von ihrer Tochter lösen konnte.
„Entschuldigung“, stammelte sie, „es tut mir so leid!“ Endlich gelang es Sandra ihr Mädchen anzuschauen.
Nenja stand wie vom Donner gerührt da, obwohl ihre Gliedmaßen zu zittern begannen. Sie sah ihre Mutter angstvoll an.

– Kapitel 3 –

„Na, meine Große, steht Merlheim noch und vor allem, was machen unsere beiden Lieblinge?“
„Danke der Nachfrage Papa, mir geht es auch gut!“ Jessi spielte die Gekränkte nicht besonders gut und musste auch gleich darauf schon wieder lachen. „Außerdem seid ihr mal gerade acht Stunden von hier fort. In dieser Zeit hat noch kein Erdbeben das Dorf niedergemacht, noch keine Epidemie die Menschen dahingerafft und die Zwillinge haben auch noch nicht ihr Abitur hinter sich. Es ist alles okay. Und ich gehe mal davon aus, dass ihr gut gelandet seid?“, fragte Jessi.
„Ja Liebes, bei uns ist alles bestens gelaufen.“ In seiner Begeisterung registrierte Robert den versteckten Seitenhieb, den ihm seine Tochter gegeben hatte, gar nicht.
„Wir sind hier in unser kleines Paradies zurückgekommen, die Sonne strahlt, das Hotel scheint super zu sein und wir werden jetzt gleich mal an den Strand gehen und uns in die Fluten stürzen. Es ist wieder herrlich auf Korfu! Ich soll euch alle ganz lieb von Petra grüßen und …“
„Jessi“, erklang jetzt Petras fröhliche Stimme aus dem Hörer. Anscheinend hatte sie Robert das Telefon ungeduldig, wie sie war, einfach aus der Hand gerissen.
„Ist alles in Ordnung mit den Kindern? Hier ist es so traumhaft! Ach, wärt ihr doch mitgekommen. Die Kleinen könnten wunderbar im Sand spielen. Jessi, sag doch auch mal was. Das Hotel ist fabelhaft, wenn das Essen so gut ist, wie die Zimmer, dann nehme ich in den drei Wochen garantiert fünf Kilo zu – trotz des Stresses, der uns wahrscheinlich erwartet. Dein Vater will dich unbedingt noch mal sprechen, ich geb dich zurück. Tschüss Liebes …“
So ging das etwa eine viertel Stunde lang. Petra und Robert nahmen sich immer wieder gegenseitig das Handy ab, um weitere Begeisterungsstürme über ihr Urlaubsparadies loszulassen.

Dabei war dies erst der Anfang, denn die Weilands waren nicht nur zur Erholung nach Korfu gereist, sondern um sich ihren Traum vom eigenen Ferienhaus auf der Insel zu erfüllen. Sie hatten im Internet recherchiert und bereits von Deutschland aus telefonisch mit einigen Immobilienhändlern verhandelt. Es standen mehrere infrage kommende Objekte zur Auswahl – und in den nächsten drei Wochen würden sie Nägel mit Köpfen machen.
Jessi kam kaum zu Wort und als das Gespräch beendet war, dachte sie schmunzelnd, dass sie ihren Vater früher nie so aufgedreht und glücklich erlebt hatte. Die neue Lebenslust verdankte er eindeutig seiner zweiten Frau Petra.

Dann stand sie auf und ging ins Haus, weil sie einen der Zwillinge vor sich hin brabbeln hörte. Da würde auch der andere nicht lange mit dem Aufwachen auf sich warten lassen.
„Hallo Dag, meine Süße, hast du schon ausgeschlafen?“, begrüßte sie ihre kleine Tochter, die sie mit leuchtenden blonden Augen ansah und ihre beiden Ärmchen nach ihr ausstreckte. In diesem Moment war Jessi der glücklichste Mensch auf der ganzen Welt.

***

„Setz dich bitte, ich muss mit dir reden“, bat Sandra ihre Tochter. Zitternd nahm das Mädchen Platz. Instinktiv wusste sie, dass dieses Gespräch ihr ganzes Leben verändern würde.
Sandra lief nervös kreuz und quer durchs Zimmer. Mehrmals setzte sie an, um zu reden, aber jedes Mal versagte ihre Stimme. Nenja traute sich nicht, irgendetwas zu fragen, deshalb saß sie stumm auf dem Sofa und wartete ungeduldig darauf, dass ihre Mutter endlich sprechen würde. Das Mädchen fing an zu schwitzen und knotete aus lauter Nervosität heftig an ihrem T-Shirt herum.
„Nenja, Kind, du weißt, dass ich dich sehr liebe …“, begann Sandra jetzt endlich. Aber dann stockten ihre Worte schon wieder. Sie räusperte sich und versuchte es erneut. „Ich … ich …“, sie wusste einfach nicht, wie sie es ihrer Tochter beibringen sollte.
Sie setzte sich neben Nenja auf die Couch und legte ihren Arm um die Schultern des Mädchens, das sich instinktiv eng an die Mutter schmiegte.
„Ich war heute beim Arzt. Und er hat … er hat … festgestellt, dass ich ziemlich krank bin.“
Nenjas Augen wurden groß und sie sah die Mutter ängstlich an, sagte aber noch immer kein Wort.
„Krebs.“ Das Wort stand im Raum, wie ein großer, grauer Fels, den niemand zur Seite rücken konnte. Sandra stand wieder auf und begann erneut mit der unruhigen Wanderung durchs Zimmer.

Zum ersten Mal reagierte Nenja.
„Aber den kann man doch heutzutage heilen“, flüsterte sie und schaute ihre Mutter wie hypnotisiert an.
Sandra schüttelte nur ganz leicht ihren Kopf.
„Die Metastasen sind schon im ganzen Körper und eine Operation ist nicht sinnvoll, weil sie gar nicht wüssten, wo sie anfangen sollten.“ Sandra war jetzt, da sie ihrer Tochter die bittere Wahrheit sagen musste, wieder die starke, ruhige Frau, die sie ihr ganzes Leben lang gewesen war. Plötzlich machte sie sich keine Sorgen mehr um sich selbst, sondern nur noch darum, was aus Nenja werden würde.
„Es tut mir so unendlich leid, dass ich dich alleine lassen muss, mein Liebling. Und auch, dass ich dich mit dieser Nachricht so überfalle, aber ich wusste einfach nicht, wie ich es dir schonender beibringen sollte.“
Nenja schien überhaupt nicht zu realisieren, was ihre Mutter eben gesagt hatte. Es dauerte eine ganze Weile bis ihr der Sinn der Worte bewusst wurde und sie: „Nein, Mama, bitte nein!“ stammeln konnte. Dann warf sie sich in Sandras Arme und lange Zeit konnte sich keine der beiden von der andern lösen oder auch nur ein einziges weiteres Wort sagen. Selbst denken ging nicht. Nur fühlen – die größte Verzweiflung die Sandra und Nenja jemals im Leben empfunden hatten.

Nichts, wirklich nichts hatte noch Platz in Nenja, außer diesem entsetzlich beklemmenden Gefühl, dass die Luft zum Atmen wie dicken Sirup werden und das Herz rasen ließ – die Ohnmacht, die Angst, das Nicht-akzeptieren-wollen. Sie klammerte sich an ihre Mutter, als könne sie damit das Schicksal aufhalten.
Es war fast eine halbe Stunde vergangen, als Sandra sich vorsichtig von ihrer Tochter zu lösen versuchte. Sie strich ihr sanft und tröstend über das wirre, verschwitzte Haar. Nenja glich einer Marionette. Der Schock saß zu tief.

„Aber das geht nicht, das geht einfach nicht!“, begehrte Nenja plötzlich auf. „Mama, die Ärzte haben sich geirrt. Eine Fehldiagnose, ganz bestimmt. Du bist gesund. Du bist nicht krank. Ganz, ganz sicher nicht, ich weiß das! Ich weiß das ganz genau! Mama, bitte sag, dass du mich nur foppen wolltest, bitte, bitte!“
Die Verzweiflung ihrer Tochter konnte Sandra kaum ertragen. Es war ein entsetzliches Gefühl. Viel schlimmer noch als das, das sie vor ein paar Stunden selbst durchleben musste, als sie die Nachricht von Dr. Holzner erfahren hatte. Sie zuckte nur hilflos mit den Schultern und schluckte schwer, um nicht wieder in Tränen auszubrechen. Aber sie wollte stark sein für ihre Tochter. Sie war das Einzige, was jetzt noch zählte.

***

Das Zusammenleben nach der Aussprache zwischen Sandra und Nenja gestaltete sich unproblematischer, als befürchtet. Allerdings nur an der Oberfläche. Beide versuchten permanent Rücksicht auf die Andere zu nehmen. Beide waren unsicher. Beide spielten die Starke, wenn sie beieinander und heulten sich die Augen aus dem Kopf, wenn sie getrennt waren.

Sandra hatte einen Notar aufgesucht, um ihn den Verkauf der Firma, die Abfindung ihrer Angestellten, ihre kompletten Finanzen und alles was ihre eigene Beerdigung betraf, regeln zu lassen. Sie wunderte sich über sich selbst, dass sie die Kraft hatte, an all diese Dinge zu denken. Sie fühlte sich von Tag zu Tag schwächer und inzwischen waren die Schmerzen stärker geworden, so dass sie regelmäßig morphinhaltige Arzneimittel nehmen musste, um ihren Alltag noch halbwegs bewältigen zu können. Dr. Holzner wollte sie unbedingt stationär in der Klinik aufnehmen, aber das lehnte Sandra strikt ab.

Innerhalb der nächsten vier Wochen hatte sie alles soweit erledigt und konnte davon ausgehen, dass das Geschäftliche nach ihrem Willen geregelt würde – Nenja war finanziell abgesichert und der Baum auf dem Hofheimer Friedhofes, unter den ihre Asche begraben werden sollte, war reserviert. Jetzt gab es nur noch ein Problem. Aber das war das schwerwiegendste von allen – sie musste sich vor ihrer Tochter noch zu einer anderen Wahrheit bekennen. Einer Wahrheit, vor der sie selbst seit sechzehn Jahren geflüchtet war.
Nenjas Vater war nicht tot, wie sie der Tochter immer erzählt hatte, sondern er lebte – hier in Hofheim und er hatte von Nenjas Existenz nicht die geringste Ahnung.

Sandra hatte dieses Gespräch immer wieder hinausgezögert, weil sie nicht wusste, wie sie ihrer Tochter erklären sollte, dass sie sie mit einer solchen Lüge hatte aufwachsen lassen. Vor einigen Jahren hatte sich Sandra fest vorgenommen, Nenja alles zu beichten, sobald sie volljährig wurde. Aber unter den gegebenen Umständen konnte das nicht mehr so lange warten, das war Sandra klar. Trotzdem verschob sie das Gespräch immer und immer wieder, weil sie sich einfach nicht wagte, das heikle Thema anzuschneiden.

An einem Nachmittag, als sie Nenja dazu überredet hatte, endlich mal wieder zu ihrer Freundin Lilli zu gehen, setzte Sandra sich an ihren Schreibtisch und begann einen Brief an ihre Tochter zu schreiben. Da sie nicht abschätzen konnte, wie Nenja auf ihr Geständnis reagieren würde und sie auch nicht wusste, wie tief sie bei dem Gespräch ins Detail würde gehen können, dachte Sandra, dass ein ausführlicher Brief, auch nach ihrem Tod, Nenja die damalige Situation am besten erklären konnte.

Meine liebe Tochter, schrieb sie,
wenn du diesen Brief in Händen hältst, bin ich nicht mehr bei dir. Doch es ist nur mein Körper, der vorausgegangen ist. Meine Seele wird immer bei dir sein und über dich wachen, das verspreche ich dir ganz fest.
Sei nicht traurig, mein Engel und mache mich glücklich und stolz, indem du dein Leben meisterst und dich nicht unterkriegen lässt.
Es ist in Ordnung, wenn du um mich weinst … aber ich möchte, dass du bald wieder aus vollem Herzen lachen kannst, auch wenn dir das im Moment wohl recht unwahrscheinlich vorkommt.
Ich habe jetzt alles überstanden, habe keine Schmerzen mehr und bin ganz bestimmt an einem wunderbaren Ort gelandet, wo ich auf dich warten werde. Ich will, dass ich dort noch mindestens achtzig Jahre lang auf dich warten darf. Und ich will, dass du in dieser Zeit, bis wir uns wiedersehen, ein erfülltes, glückliches Leben führst.
Mein Liebling, es fällt mir unendlich schwer, dir noch etwas zu sagen, dass ich vor dir bisher, erst aus Rücksichtnahme auf dein Alter, später aus Feigheit, verheimlicht habe. Ich werde das Gespräch mit dir in den nächsten Tagen suchen und ich hoffe so sehr, dass du mir meine Lüge verzeihen wirst.
Um ganz sicher zu sein, dass du alles richtig verstehst – mich richtig verstehst – werde ich dir die ganze Wahrheit aber noch einmal hier in diesem Brief niederschreiben.
Nenja, mein Engel, ich habe dich bewusst belogen. Dein Vater ist NICHT bei einem Verkehrsunfall gestorben, so wie ich es dir immer erzählt habe …

Sandra schrieb die ganze Geschichte über Nenjas leiblichen Vater nieder und die Erinnerung daran trieb ihr die Tränen in die Augen.

Gerade als sie bei dem entscheidenden Satz angelangt war und „… nun ist es soweit. Dein Vater heißt …“ geschrieben hatte, fuhr sie erschrocken zusammen. Nenja hatte überraschend das Zimmer betreten. Sandra hatte die Wohnungstür wohl nicht gehört und schob jetzt schnell den angefangenen Brief unter einen Stapel Papiere. Dann stand sie auf und ging ihrer Tochter entgegen.
„Du bist ja schon wieder zurück, mein Liebling“, sagte sie und nahm Nenja in die Arme.
„Ich hatte einfach keine Ruhe bei Lilli. Ich wollte lieber bei dir sein, Mama.“

– Kapitel 4 –

„Es hat also wirklich geklappt? Ihr habt das Haus gekauft? Das ist ja Wahnsinn!“ Laura lachte ihre Mutter an. „Na, dann wissen wir ja schon, wo wir unseren nächsten Urlaub verbringen werden, Schatz!“, wandte sie sich an ihren Mann.
„Damit habe ich kein Problem. Korfu ist wirklich schön. Ich hab da mal drei Monate bei einem alten griechischen Schreiner ausgeholfen. Wo steht euer Haus denn genau?“, fragte Simon seine Schwiegermutter.
„Im Nordwesten der Insel. In Afionas. Das ist ein kleines, wunderhübsches Dorf hoch über dem Meer. Ich hab die Fotos schon auf den Computer gezogen. Kommt doch alle heute Abend zu uns rüber, dann schauen wir sie uns gemeinsam an.“ Petra sah gut gelaunt in die Runde. „Wir sagen auch Jessi und den anderen Bescheid. Was haltet ihr von einem spontanen Grillabend mit anschließender Hausbesichtigung via Beamer?“
„Eine super Idee, wir sind dabei!“ Laura stand auf. „Ich wollte sowieso noch mal zu Jessi und den Babys. Ich sage ihr Bescheid, okay?“
„Tu das. Ich freu mich schon. Was haltet ihr von neunzehn Uhr? Ich besorge das Essen und die Getränke. Ha, ihr werdet staunen!“ Petra sah ungemein zufrieden aus.
Robert Weiland schaute seine Frau schmunzelnd an. Ihm gefiel es, wenn sie so begeistert war.

***

„Ich habe mit Ingrid ausgemacht, dass sie in den kommenden Wochen hier bei uns wohnt. Ist dir das recht?“ Sandra sah ihre Tochter fragend an. „Du weißt ja, dass sie ausgebildete Krankenschwester ist und sie wird mir durch ihre Hilfe ermöglichen, dass ich zu Hause bleiben kann und nicht in die Klinik muss.“

Nenja kannte Ingrid, die beste Freundin ihrer Mutter, seit ihrer Kindheit und mochte die resolute, quirlige Frau sehr gerne. Es wäre schön, sie hier zu haben. Jemanden, der alles regeln würde und auf den auch sie sich vollends verlassen konnte. Lieber wäre sie mit ihrer Mama zwar nur noch ganz alleine gewesen, aber so realitätsfern war Nenja nun auch wieder nicht. Sie wusste, dass sie die Mutter sehr bald nicht mehr alleine würde versorgen können. Deshalb war ihr die vorgeschlagene Möglichkeit von allem Machbaren noch am liebsten.

„Ja, das wäre schön, wenn Ingrid zu uns kommt. Ich bin gerne damit einverstanden. Aber jetzt gehe ich noch mal schnell zum Supermarkt und kaufe uns was zum Abendessen. Ja?“ Nenja stand schon auf und wandte sich der Tür zu.
“Warte, ich komme mit. Ich brauche unbedingt noch etwas frische Luft.“ Sandra erhob sich schwerfällig. In den letzten Tagen war sie kaum vor der Tür gewesen. Sie war jetzt meistens ziemlich müde und völlig antriebslos. Das lag sicher nur an den Medikamenten, redete sie sich ein.

Nenja hakte ihre Mutter unter, um sie zu stützen. In den letzten Wochen hatte Sandra so stark abgenommen, dass es Nenja vorkam, als sei sie nur noch eine Feder. Es tat jedes Mal entsetzlich weh, ihre Mama in diesem Zustand sehen zu müssen und trotzdem versuchte sie stark zu sein, was ihr meistens auch gelang – zumindest nach außen hin. Die Fünfzehnjährige war durch die Erkrankung ihrer Mutter innerhalb kürzester Zeit vom unbedarften Teenager zur fast erwachsenen Frau gereift. Sie kümmerte sich aufopfernd um Sandra und versuchte ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen.

„Was magst du denn zum Abendessen? Soll ich uns einen knackigen Salat mit Schafskäse machen? Und dazu eines dieser oberleckeren frischen Baguette?“ Nenja sah ihre Mutter fragend an.
„Ja, gerne, ich hab Lust auf etwas Frisches“, antwortete Sandra, obwohl sie keinerlei Appetit verspürte.

***

Sie durchquerten langsam den kleinen Park, der zwischen ihrem Wohnhaus und dem Supermarkt lag. Doch nach wenigen Schritten bemerkte Nenja, dass ihre Mutter heute noch kraftloser als sonst war.
„Möchtest du dich nicht lieber in die Sonne setzen und auf mich warten? Ist doch hier auf der Bank viel angenehmer, als in dem stickigen Supermarkt. Ich lauf schnell rüber, kaufe ein und bin sofort wieder bei dir.“
Sandra lächelte ihrer Tochter dankbar zu.
„Gute Idee, mein Schatz. Das mache ich gerne.“ Sie setzte sich auf die bunt angemalte Parkbank und sah Nenja lächelnd nach.

Sie musste fest eingenickt sein. Ihr taten die Knochen von der harten Holzbank weh und sie wusste nicht, wie lange sie schon hier gesessen hatte. Merkwürdig, wieso war Nenja noch nicht zurück? Sandra kramte ihr Handy aus der Jackentasche, um nach der Uhrzeit zu schauen. Ach du lieber Himmel – ihre Tochter befand sich bereits seit fast einer Stunde im Supermarkt. Da stimmte doch etwas nicht. So lange Schlangen an der Kasse um diese Uhrzeit gab es doch gar nicht.
Sandra wurde von einer plötzlichen inneren Unruhe gepackt, die ihr einen regelrechten Energieschub bescherte. Jetzt erst nahm sie die Polizeisirenen wahr und sah durch die Büsche das Blaulicht blinken. Genau vor dem Supermarkt.
Panik schoss in Sandra hoch und verlieh ihr Kräfte, die sie schon lange nicht mehr gespürt hatte. Sie eilte so schnell es ihr möglich war in die Richtung, aus der der Trubel kam. Blindlings durchquerte sie den kleinen Park und lief, ohne nach rechts und links zu schauen, zu der Straße, die sie noch vom Supermarkt trennte. Jetzt nahm sie auch die vielen Polizisten wahr und die Menschenmenge, die etwas abseits hinter weißroten Absperrbändern stand. Sie sah zwei Krankenwagen, deren bedrohliche Blaulichter die Szenerie in ein angsterregendes Schauspiel verwandelten. Sandras Herz klopfte zum Zerspringen. In einem unbeobachteten Moment gelang es ihr, unter einem der Absperrbänder durchzuschlüpfen und über die Straße zu laufen. Ihre Beine versagten ihr fast den Dienst, aber mit dem eisernen Willen, den die Angst um ihre Tochter auslöste, hastete sie weiter.
Genau in diesem Moment fuhr ein blauer Transporter mit quietschenden Reifen los und erfasste Sandra, die heftig zur Seite geschleudert wurde und reglos auf dem Bordstein liegen blieb. Der Lieferwagen stoppte und wurde im gleichen Moment von Beamten des SEK umstellt, die mit gezückten Waffen zwei Männer und eine junge Frau zum Aussteigen zwangen.

Ganz in der Nähe stand ein Sanitäter, der sofort bei der Verletzten war. Als der Arzt nur wenig später mit eiligen Schritten aus dem Laden zu der Verunglückten rannte, zuckte der Sanitäter nur noch bedauernd mit den Schultern, schüttelte leicht den Kopf und drückte der Toten die Augenlider zu.

– Kapitel 5 –

Nenja erwachte von einem Sonnenstrahl, der sie an der Nase kitzelte. Sie hatte Kopfschmerzen und fühlte sich völlig erschlagen. Das kam sicher von dem fürchterlichen Albtraum, der sie heute Nacht gequält hatte. Die Augen weiterhin geschlossen, versuchte sich das Mädchen an den Traum zu erinnern. Wie realistisch sie alles vor sich sah – den Überfall auf den Supermarkt, die Geiselnahme und dann der Unfall … Nenja schlug entsetzt die Augen auf. Das war kein Traum!
Sie nahm ihre Umgebung wahr und stellte fest, dass sie sich in einem Krankenhaus befinden musste. Neben ihrem Bett saß Ingrid, Mamas Freundin, die eingeschlafen zu sein schien.

Mama! Mama war wirklich von diesen brutalen Verbrechern überfahren worden. Nenja erinnerte sich an die weit aufgerissenen und vor Schreck starren Augen ihrer Mutter, die sie Bruchteile von Sekunden angeschaut hatten, bevor es einen fürchterlichen Ruck gab und sie zur Seite geschleudert wurde. Danach wusste Nenja nicht mehr, was passiert war.
„Mama!“ schrie das Mädchen verzweifelt. „Mama, Mama … wo bist du? Mama …“, die Schreie gingen in ein hilfloses Wimmern über.

Ingrid war beim ersten Ton, den Nenja von sich gegeben hatte, sofort wach. Sie war gestern, nach dem alarmierenden Anruf von Sandras Nachbarin, noch am Abend aus Hamburg losgefahren und mitten in der Nacht bei Nenja im Krankenhaus eingetroffen. Das Mädchen hatte durch die Beruhigungsmittel, die man ihr gegeben hatte, tief und fest geschlafen.
Ingrid sprach nicht, sondern zog ihr Patenkind nur an sich und streichelte ihm unendlich zärtlich über den Kopf. Nenja jammerte nicht mehr und es lief auch keine Träne aus ihren Augen. Wie versteinert saß sie aufrecht im Bett und ließ die Trostversuche von Ingrid über sich ergehen. Sie schien sich in einer anderen Welt zu befinden. Doch nach ein paar Minuten löste sie sich aus der Umarmung und sah die Frau an.
„Was ist mit Mama?“, erkundigte sie sich beiläufig, so, als würde sie nach der Uhrzeit fragen.
Ingrid lief es kalt über den Rücken. Sie hatte in ihrem Beruf als Krankenschwester schon viel Leid erlebt, aber dieser lethargische Blick aus Nenjas Augen, schockte sie zutiefst.
„Deine Mama ist, sie ist … es tut mir so leid!“ Die Frau schluchzte laut auf. „Ich sag dem Arzt Bescheid, dass du aufgewacht bist, Nenja. Warte bitte einen Augenblick, ich bin sofort wieder bei dir.“ Die kleine agile Frau sprang auf und eilte zur Tür.
„Ich bin sofort wieder bei dir … ich bin sofort wieder bei dir …“, hallte es in Nenjas Ohren. Die letzten Worte, die sie zu ihrer Mutter gesagt hatte! Und sie hatte ihr Versprechen nicht halten können. Nenja ahnte, dass ihre Mutter nicht mehr am Leben war. Sie spürte es. Sie wusste es!

Das Mädchen fühlte sich wie in einem unwirklichen Schwebezustand und um sie herum war eine dicke, watteartige Mauer, die sie nicht durchdringen konnte. Nicht mit Gedanken, nicht mit Worten, nicht mit Gefühlen. Aber es konnte auch nichts durch diese Mauer nach innen eindringen, um sie zu verletzen, sie zu ängstigen oder ihr sonst etwas Schlimmes anzutun. Nenja war auf ihrer eigenen kleinen Insel gefangen – und geschützt.

***

„Hast du den Artikel in der Zeitung gelesen? Wie furchtbar! In Hofheim haben zwei Männer einen Supermarkt überfallen und ein fünfzehnjähriges Mädchen als Geisel genommen. Als sie mit dem Fluchtauto losgerast sind, haben sie die Mutter des Mädchens überfahren. Sie war gleich tot und das arme Kind musste das alles mit ansehen.“ Jola schüttelte entsetzt den Kopf und reichte Leo die Zeitung über den Tisch. „Versuch doch mal rauszufinden, wer sie ist und in welchem Krankenhaus sie liegt. Ich denke, ich sollte ihr einen Besuch abstatten. Vielleicht kann ich ihr ja wenigstens ein kleines bisschen helfen. Sie muss seelisch völlig am Boden sein!“

Das war typisch Jola. Sie wollte immer allen Menschen, die in Not geraten waren, helfen. Am liebsten würde sie die ganze Welt retten. Und sie konnte es sogar. Jolanthe Marquardt war eine Dagni, eine Heilerin, eine Urahne keltischer Götter, die sich bis heute einen Teil ihrer magischen Kräfte bewahrt hatte. Sie und die anderen zehn Frauen des Zirkels, die in dem kleinen Taunusdörfchen Merlheim zu Hause waren.

Leo, der gutaussehende dunkelhaarige Mann, den Jola angesprochen hatte, trank seine Tasse Kräutertee aus und stand auf.
„Ich kümmere mich sofort darum“, versprach er. Auch ihn hatte der Artikel mitgenommen und er verstand, dass Jola dem fremden Mädchen helfen wollte.
„Vielleicht sollte ich Jessi fragen, ob sie und die Zwillinge mitkommen können. Die beiden Kleinen verströmen alleine durch ihre Anwesenheit besonders viel Heilkraft und Lebensmut. Das könnte in diesem Fall sicher nichts schaden.“
„Es ist doch jedes Mal schon schwer genug für dich alleine bis zu den Kranken vorzudringen, wie willst du denn da auch noch zwei Kinder mit einschleusen?“, fragte Leo.
Aber Jola lachte nur.
„Mir wird schon was einfallen!“
„Dessen bin ich mir sicher“, grinste Leo zurück und verschwand dann mit einem kurzen Winken durch die Tür.

***

Als Professor Giersdorf mit Ingrid zusammen Nenjas Zimmer betrat, fanden sie das Mädchen angezogen auf dem Bett sitzen. Alles, was sie in ihrem Nachttisch gefunden hatte, war in eine Plastiktüte gewandert, die sie in der rechten Hand hielt. Nenja stand auf, begrüßte freundlich den Arzt und wandte sich dann an Ingrid. „Können wir gehen?“
Sie machte einen völlig stabilen Eindruck – und genau das war das Unheimliche. Nachdem, was dieses Mädchen erlebt hatte, konnte sie gar nicht vernünftig reagieren, das war nicht normal! Ingrid sah hilfesuchend zu dem Professor.

„Ich bin Professor Giersdorf und würde mich gerne noch mit dir unterhalten, Nenja. Möchtest du nicht mit zu mir in mein Büro kommen? Oh Entschuldigung, darf ich denn noch du sagen?“ Der Arzt ging auf Nenjas Verhalten ein, er kannte diese Art von Verdrängung als Schutzmechanismus sehr gut und wusste, dass es keinen Sinn machte, das Mädchen zu etwas zu zwingen.
Die Zeit … sie würde auch diese große Wunde heilen. Aber bis dahin würden noch sehr viele Wochen und Monate vergehen.

„Sicher können Sie mich noch duzen, Herr Professor. Ich bin ja erst fünfzehn. Aber ich möchte jetzt nach Hause, bitte. Ich komme gerne an einem anderen Tag wieder, aber jetzt will ich heim. Ich muss noch so vieles erledigen für die Beerdigung. Bestimmt ist die schon in ein paar Tagen? Sie wissen doch sicher, was da alles bedacht und geregelt werden muss.“ Nenja hörte sich wie eine vierzigjährige erfolgreiche Geschäftsfrau an, die genau wusste, was sie wollte – aber ganz sicher nicht wie ein junges Mädchen, das gerade auf tragische Weise die Mutter verloren hatte.
„Ich danke Ihnen, dass Sie mich hier fürs erste aufgenommen haben, aber nun … komm bitte, Ingrid!“ Sie nickte dem Professor freundlich zu und wandte sich dann zur Tür.
Ingrid sah den Arzt fassungslos an. Dieser nickte nur und sagte leise: „Sie bleiben bei ihr? Rufen Sie mich bitte bei der kleinsten Veränderung an.“ Er drückte ihr seine Visitenkarte in die Hand. „Unter der Handynummer bin ich immer, Tag und Nacht, für Sie erreichbar. Ansonsten versuchen Sie sie morgen gegen sechzehn Uhr hierher zu bringen. Im Moment sehe ich keine Gefahr für Nenja. Lassen Sie ihr ihre abgeschottete Welt noch ein wenig. Sie wird früh genug in die Realität zurückfallen. Und das wird nicht schön werden.“ Professor Giersdorf nickte Ingrid beruhigend zu.

***

Sie fuhren mit Ingrids kleinem Seat, der direkt vor der Bad Sodener Klinik in der Parkbucht am Straßenrand stand, wortlos nach Hofheim zurück. Die sonst so selbstbewusste Frau, die kaum um ein Wort verlegen war, fühlte sich dieser Situation nicht gewachsen. Sie trauerte selbst um den plötzlichen Tod der Freundin, hatte aber das Gefühl, dafür überhaupt keine Zeit zu haben.
Natürlich war Nenja jetzt wichtiger als alles andere, aber Ingrid wusste nicht was richtig und was falsch war. Zumal sie rechtlich gesehen überhaupt keine Handhabe hatte, irgendetwas für die Tochter der Freundin zu entscheiden.

Erst vor ein paar Tagen hatte Sandra am Telefon über einen Rechtsanwalt und Notar in Hofheim gesprochen, den sie mit allem, was es für sie zu regeln gab, betraut hatte. „Wie hieß der noch? Bergmann, Berg…, Berg…, Dr. Berger!“, jetzt war es ihr wieder eingefallen. Der musste doch aufzutreiben sein. Ingrid atmete tief durch. Dieser Mann kannte die Situation von Sandra besser, als jeder andere. Er sollte wissen, was jetzt alles zu tun war. So hilflos hatte sich Ingrid in ihrem ganzen Leben noch nicht gefühlt und sie war heilfroh, wenn sie die Verantwortung mit jemandem teilen konnte.

Als sie auf der Straße vor dem Dreifamilienhaus anhielten, in dem sich die Wohnung befand, die Sandra und Nenja so gemütlich eingerichtet hatten, musterte Ingrid stumm das Gesicht des Mädchens neben sich. Aber Nenja stieg aus dem Fahrzeug, zückte ihren Schlüssel und betrat das Haus, als sei nichts geschehen. Vor der Wohnungstür hielt sie zwar kurz inne, öffnete sie dann aber entschlossen und betrat ihr Zuhause. Ingrid war direkt hinter ihr. Nenjas Verhalten war ihr völlig unverständlich.

„Ich geh in mein Zimmer. Danke für alles!“ Mit diesen Worten ließ Nenja die verblüffte Ingrid einfach stehen.

– Kapitel 6 –

„Danke, dass Sie so rasch Zeit für mich haben, Herr Dr. Berger. Ich bin Ingrid Rossner, die Freundin von Frau Merck.“
„Frau Rossner, mein Beileid. Bitte nehmen Sie doch Platz“, bat Herr Berger und wies mit der Hand auf den bequem aussehenden Stuhl, der seinem Schreibtisch gegenüber stand.

Die Notar- und Anwaltspraxis des noch recht jungen, aber ernsthaft wirkenden Mannes, lag im obersten Stockwerk eines mehrgeschossigen Gebäudes mitten im Zentrum Hofheims. Die Einrichtung war modern und die Sonne konnte ungehindert in das zum Schwarzbach hin gelegene Büro schauen. Von hier aus hatte man einen herrlichen Blick über einen Teil der Stadt und Dr. Berger stand oft vor seinem Bürofenster und schaute hinaus, wenn er über einen komplizierten Fall nachdachte. Eine lautlos arbeitende Klimaanlage hielt die Temperatur im Raum auf angenehmen Gradzahlen.

Dr. Berger räusperte sich.
„Da Frau Merck wusste, was auf sie zukommt, wenn auch nicht so schnell und auf diese schreckliche Art und Weise, hat sie bereits alles über mich regeln lassen. Inklusive ihrer eigenen Beerdigung. Ich werde mich, wie sie es sich gewünscht hat, um alles kümmern. Hmm, allerdings über die Tochter von Frau Merck wollten wir beim nächsten Termin sprechen. Das war der letzte offene Punkt, der ihr verständlicherweise sehr am Herzen lag. Sie hatte schon Andeutungen wegen des Vaters des Kindes gemacht, aber noch keine konkreten Wünsche geäußert.“ Berger sah Ingrid fragend an.
„Sandra hat Ihnen gegenüber erwähnt, wer der Vater von Nenja ist? Na, Gott sei Dank. Das hatte sie bisher nämlich niemandem gesagt und ich habe mir schon solche Sorgen wegen Nenja gemacht.“ Ingrid atmete auf. Doch sie wurde enttäuscht.
„Es tut mir leid, auch ich weiß nicht, wer der Vater ist. Das wollte sie mir bei unserem nächsten Treffen verraten. Sie sagte nur, dass Nenjas Vater hier in Hofheim lebt und sie möchte, dass er seine Tochter kennenlernt. Ihre ganze Hoffnung belief sich darauf, dass die beiden sich gut verstehen und er Nenja bei sich aufnehmen würde.“ Der Rechtsanwalt hob bedauernd die Schultern und schob seine Brille nervös auf seiner Nase hin und her.
„Ich hatte sehr gehofft, dass Sie mir, als ihre Freundin, da weiterhelfen können.“
„Nein, ich habe nicht mal ansatzweise eine Ahnung, obwohl ich Sandra in der Zeit als sie schwanger wurde schon lange gekannt habe. Aber ich wohne in Hamburg, wissen Sie, damals schon, und wir sind zwar Freundinnen und haben uns niemals aus den Augen verloren, aber durch die weite Entfernung haben wir natürlich nicht alles mitbekommen, was die andere erlebte. Das Geheimnis um den Vater ihrer Tochter hat Sandra wohl mit ins Grab genommen. Ich wusste bis vor ein paar Tagen noch nicht einmal, dass er noch leben soll. Mir hatte sie, wie jedem anderen auch, die Geschichte vom Tod ihres Ehemannes durch Verkehrsunfall noch während ihrer Schwangerschaft erzählt. Deshalb bin ich auch nie näher auf dieses Thema eingegangen, obwohl Nenja als sogenanntes Frühchen, verdammt groß und kräftig war.“ Ingrid sah den Rechtsanwalt direkt an. „Und jetzt?“
„Schwierig! Das Mädchen ist noch minderjährig und wie es ausschaut, konnte Frau Merck ihren Willen nicht mehr offiziell äußern. Der einzige offizielle Verwandte ist der Vater von Frau Merck, doch der befindet sich selbst in einem Pflegeheim und kann nicht als Vormund eingesetzt werden. Sicher könnte ich erwirken, dass Nenja unter diesen Umständen mit zu Ihnen nach Hamburg kommen kann. Aber das muss erst mit den zuständigen Behörden abgeklärt werden.“ Dr. Berger sah Ingrid direkt in die Augen. „Das heißt, wenn Sie eine solche Möglichkeit in Betracht ziehen und Nenja das auch möchte.“
„Ja, natürlich kann Nenja jederzeit zu meinem Mann und mir kommen. Ich habe vier Jungs großgezogen, wissen Sie und ich würde auch gerne für das Mädchen sorgen. Allerdings …“, Ingrid räusperte sich, „allerdings, müsste sich erst ihr Gesundheitszustand bessern. Ihr psychischer Zustand. Zurzeit könnte ich die Verantwortung einfach nicht übernehmen. Sie verhält sich so eigenartig, dass ich schlimme Angst um sie habe.“

Sie erzählte dem Rechtsanwalt alles, was sie über Sandras Tod und über das Verhalten Nenjas wusste, was Professor Giersdorf gesagt hatte und was sie selbst von allem hielt. Über zwei Stunden verbrachte Ingrid in dem Büro des Notars bis sie sich mit Berger einig war. Er würde sich direkt mit dem Jugendamt in Verbindung setzen, um die Möglichkeiten abzuklären und mit Professor Giersdorf Kontakt aufnehmen, wie mit Nenja umgegangen werden soll.
Ingrid war sehr erleichtert, dass ihr die Verantwortung abgenommen worden war. So sehr sie die Freundin geliebt hatte und so viel sie gerne für Sandra getan hätte, sie fühlte sich hoffnungslos überfordert und nicht berechtigt, das künftige Leben von Nenja zu bestimmen.

– Kapitel 7 –

Nenja lief ziellos durch die leere Wohnung. Sie räumte hier etwas zur Seite und strich dort ein Kissen glatt. Ingrid hatte schon alles aufgeräumt und gespült, so dass dem Mädchen nicht viel zu tun blieb. Sie setzte sich aufs Sofa, hielt es aber keine Minute dort aus und stand wieder auf. Sie schlenderte in Sandras Zimmer hinüber. Ihr Bett war gemacht, das Fenster stand weit offen und ließ den warmen Sommerduft in den Raum. Kein einziges Kleidungsstück lag herum. „Gar nicht Mamas Art“, dachte Nenja und ging langsam weiter. Am Schreibtisch blieb sie stehen und spielte gedankenverloren mit den Papieren, die hier, wie immer völligst durcheinander, herum lagen. Diese ganz persönlichen Dinge von Sandra aufzuräumen, hatte sich Ingrid wohl nicht getraut.

Nenja begann automatisch, die diversen Schreiben und Zettel nach privat und geschäftlich zu sortieren und auf zwei Stapel zu schichten. Sie schaute die Papiere nur flüchtig an, um entscheiden zu können, auf welchen der beiden Stapel sie gehörten. Bis ihr Blick auf einen handgeschriebenen Brief fiel. Sie sah die typische Schrift ihrer Mutter:
Meine liebe Tochter,
wenn du diesen Brief in Händen hältst, bin ich nicht mehr bei dir …

Es war exakt dieser Moment, in dem Nenja erstmals realisierte, was überhaupt passiert war. Sie presste den Brief an sich und stieß einen markerschütternden Schrei aus: „Neeeeeiiiiiiin!!“ Dann starrte sie auf den Zettel in ihrer Hand und das Herz klopfte so wild in ihrer Brust, dass sie glaubte, es müsse jeden Moment zerspringen. Die Wahrheit, die sie so lange weit von sich geschoben hatte und einfach nicht hatte realisieren wollen, stürzte sie innerhalb einer Sekunde von ihrer Schutzinsel in die harte Wirklichkeit zurück. Jetzt konnte sie nur noch schmerzlich wimmern, dann sank sie auf dem Boden zusammen, direkt vor Sandras Schreibtisch und die Tränen fanden endlich ihren Weg nach draußen.

So entdeckte Ingrid das Mädchen etwa eine halbe Stunde später, als sie vom Notar zurück in Sandras Wohnung gekommen war. Tränenüberströmt, noch immer heftig schluchzend und einen Brief an die Brust gedrückt, saß Nenja auf dem Boden in Sandras Zimmer.
Ingrid half dem völlig verkrampften Mädchen beim Aufstehen und führte die willenlose Nenja in ihren eigenen Raum. Dort flößte sie ihr eine der Tabletten ein, die Professor Giersdorf ihr für den Notfall mitgegeben hatte. Ingrid setzte sich an den Rand des Bettes, auf dem Nenja lag.
Das Medikament schien recht schnell zu wirken, denn es dauerte nur Minuten, bis das Mädchen merklich ruhiger wurde und die Augen schloss. Bald darauf verrieten regelmäßige Atemzüge, dass sie eingeschlafen war. Ingrid wollte den Brief aus Nenjas Händen nehmen, aber sie hielt ihn, selbst im Schlaf, fest umkrallt. Er wäre sicher zerrissen, wenn sie es mit Gewalt versucht hätte, deshalb ließ Ingrid den Brief wo er war, deckte Nenja fürsorglich mit einer Decke zu und ging nach draußen, um Professor Giersdorf anzurufen. Die Zimmertür ließ sie angelehnt, so dass sie hören konnte, wenn sich in Nenjas Zimmer irgendetwas regte.

***

Wie sie die Trauerfeier überstanden hatte, konnte Nenja später nicht mehr sagen. Sie hatte willenlos starke Beruhigungsmittel von Professor Giersdorf geschluckt und die ganze Prozedur über sich ergehen lassen. Sie wusste, dass Ingrid und der Anwalt ihrer Mutter sich um alles gekümmert und eine Beerdigung im Sinne Sandras organisiert hatten.
Die kleine Trauerhalle auf dem Hofheimer Waldfriedhof war proppenvoll, so dass viele Leute außerhalb des Gebäudes standen, um durch die offenen Türen die Feierlichkeiten mitzuerleben. Sandra war durch ihr Schicksal, das in den Zeitungen groß ausgeschlachtet worden war, zu einer lokalen Berühmtheit geworden. Und es gab genügend Neugierige, die sich die Beerdigung nicht entgehen lassen wollten.

Sandras Mutter war vor einem Jahr verstorben und der Vater, der noch immer in dem Seniorenheim im Westerwald lebte, konnte aus gesundheitlichen Gründen keine Reise mehr unternehmen und deshalb nicht zur Beerdigung der einzigen Tochter kommen.
Nach dem Tod seiner Frau musste Eduard Strathmann in die Pflegeabteilung des Heimes umziehen, weil er sich nicht mehr alleine versorgen konnte. Die Bitte Sandras, er solle zu ihr nach Hofheim kommen, damit sie sich um ihn kümmern konnte, hatte er strikt abgelehnt, weil er seiner Tochter nicht zur Last fallen wollte.
Die Nachricht von Sandras Tod hatte Eduard wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen. Er hatte nichts von ihrer Krankheit geahnt und der Unfall, der das Leben seiner Tochter so abrupt beendet hatte, war für ihn unfassbar. Fast auf den Tag genau ein Jahr nach dem Tod seiner geliebten Frau war nun auch noch seine Tochter von ihm gegangen. Jetzt hatte der alte Mann nur noch seine Enkelin Nenja. Aber die war noch ein Kind und Eduard fragte sich, was jetzt wohl aus ihr werden würde.
Er weinte lange, nachdem Schwester Monika ihm die schlimme Nachricht möglichst schonend übermittelt hatte. Er weinte um Sandra und seine Frau, um seine Enkelin und um sich selbst. Er fiel in tiefe Depressionen, aus denen er sich lange nicht mehr befreien konnte.

***

Nun waren bereits drei Tage seit der Beerdigung vergangen. Nenja hielt sich überwiegend in ihrem Zimmer auf und war endlich zu einem normal trauernden Kind geworden. Sie weinte oft und wollte kaum etwas essen, aber Professor Giersdorf beruhigte Ingrid. Das war eine gesunde Reaktion, die das Mädchen zeigte und die Zeit würde ihr helfen.

Was Nenja allerdings für sich behielt, war das Geheimnis um ihren Vater, das ihre Mutter in dem Brief angedeutet hatte. Sie würde ihren Vater finden. Das hatte sich das Mädchen geschworen. Erst wollte sie ihn kennenlernen, bevor sie ihm sagen würde, dass sie seine Tochter war. Darüber nachzugrübeln, wie sie den Unbekannten aufspüren konnte, half ihr etwas über den Schock und die Trauer um ihre Mutter hinweg. Zumindest hatte sie ein Ziel.

***

Nenja nahm zwar wahr, dass es an der Wohnungstür klingelte, aber sie kümmerte sich nicht darum. Ingrid würde schon aufmachen und alles regeln. Ihre Zimmertür stand einen Spalt breit offen, so dass sie zum Teil hören konnte, was jetzt in der Diele gesprochen wurde.
Eine Fürsorgerin vom Jugendamt stellte sich vor und Nenja spitzte die Ohren. Sie verstand zwar nicht genau, was gesprochen wurde, aber das Wort Heim war eindeutig dabei und ließ Nenja mitten in der Bewegung erstarren. Mehr von dem Gespräch bekam das Mädchen allerdings nicht mit, weil die beiden Frauen ins Wohnzimmer gegangen waren.

„Die wollen mich in ein Heim stecken!“, schoss es Nenja panisch durch den Kopf. Ihre Gedanken überschlugen sich und sie überlegte fieberhaft, was sie tun könnte. Auf gar keinen Fall wollte sie in ein Heim!
Dann hatte sie sich entschieden. Ohne weiter zu überlegen stopfte sie zitterig einige Klamotten, ihren Ausweis und alles, was sie an Barschaften zusammenkratzen konnte in den Rucksack und schlich sich aus dem Raum. Dass die Frauen die Tür des Wohnzimmers hinter sich geschlossen hatten, kam dem Mädchen entgegen, da sie so auch noch das Geld, die eiserne Reserve ihrer Mutter, das in der Küche versteckt war, unbemerkt holen und einstecken konnte.
Nenja war sich zwar immer noch nicht im Klaren darüber, was sie jetzt tun sollte, aber nie und nimmer würde sie sich in ein Heim abschieben lassen. Leise verließ sie die Wohnung.

– Kapitel 8 –

„Okay, dann wollen wir mal!“ Simon Grenz startete den Motor seines alten Peugeotbusses. Der Innenraum des Fahrzeuges war voll gepackt mit Werkzeugen aller Art und es war gerade noch so viel Platz, dass zwei Menschen auf dem halbwegs freien Notbett liegen konnten. Um das Auto herum standen einige Merlheimer, die den Abfahrenden nachwinken wollten.

„Meinst du, dass ihr alles so hinbekommt, wie wir es besprochen haben?“ wandte Petra sich zweifelnd durch die offene Scheibe der Fahrertür an Simon.
„Aber ja doch. Mach dir keine Sorgen. Es wird sicher wunderschön und du wirst zufrieden sein, versprochen. Ich denke, dass wir in etwa acht Wochen soweit fertig sind, dass ihr nachkommen könnt. Wir halten euch auf dem Laufenden und bei jeder Unklarheit werden wir euch anrufen, großes Indianerehrenwort!“
Diese oder ähnliche Unterhaltungen hatten in den letzten Tagen bereits mehrfach stattgefunden, aber der junge Mann verlor nie die Geduld.

Die eingepackten Werkzeuge benötigte er, um das Ferienhaus auf Korfu zu renovieren, das Robert und Petra Weiland, seine Schwiegereltern, gekauft hatten. Da Simon selbständig war und sich seine Arbeit einteilen konnte, hatte er sich gerne bereit erklärt, diese Aufgabe zu übernehmen. Seine Frau Laura freute sich darauf, das Haus wohnlich zu gestalten … und auf einige Wochen Sonne und Meer.

Den ganzen schriftlichen Kram, der zum endgültigen Kaufabschluss notwendig gewesen war, hatten Robert und Petra in den letzten Wochen erledigt und waren zum Unterschreiben extra noch einmal für drei Tage nach Korfu-Stadt geflogen. Durch die gute Vorarbeit war alles erstaunlich schnell gegangen und jetzt war es soweit, dass die Renovierung beginnen konnte.

Jeder einzelne Raum, die komplette Elektrik und auch die Außenanlagen waren unzählige Male geplant, gezeichnet und diskutiert worden, bis sich die Familien Weiland, Grenz und Becker, die zukünftigen Bewohner des idyllischen Ferienhauses, einig waren. Und Simon war, als Schreiner und handwerklicher Tausendsassa, dazu auserkoren worden, die Planungen umzusetzen.

***

Simon Grenz und seine junge Frau Laura hatten im letzten Herbst geheiratet. Petra, die Mutter von Laura hatte den beiden nur zu gerne ihren Segen gegeben, denn einen besseren Schwiegersohn, als Simon konnte sie sich nicht wünschen.
Sein Heiratsantrag damals war beispiellos und auch später noch oft Gesprächsthema im Dorf. Simon hatte auf der Waldlichtung, nahe bei Merlheim, ein riesiges Holzgerüst errichtet. An diesem waren in großen Buchstaben die Worte: „Laura, ich liebe dich über alles! Willst du meine Frau werden?“, aus kleinen Ästen und goldfarbenen Bändern geflochten, angebracht. Das ganze Kunstwerk war auf den ersten Blick fast unsichtbar in die Natur integriert.
Als aber Simon die Lichtung am frühen Abend, es war bereits dämmrig, mit der unwissenden Laura betreten hatte, erklang plötzlich wunderbare Musik und die großen Buchstaben strahlten golden auf. Überall leuchteten kleine, schimmernde Lichter, die wie Schneeflocken sanft zur Erde zu schweben schienen. Die ganze Lichtung sah wie verzaubert aus – und war es letztendlich auch. Denn Simon hatte sich Hilfe von Jola geholt, die dem Ganzen noch den letzten Schliff gegeben hatte. Und der bestand aus dem unbeschreiblichsten Lichter- und Farbenspiel, das Laura je gesehen hatte.
Als dann rechts und links aus den Bäumen auch noch ihre Freunde und die Familie hervortraten und begeistert klatschten, liefen Laura die Tränen der Rührung über die Wangen und sie konnte ihr „Ja“ nur noch hauchen.

***

Jetzt aber war das Ehepaar Grenz auf dem Weg zu der kleinen griechischen Insel Korfu. Sie fuhren in zwei Etappen bis nach Venedig, um sich von dort aus mit einer riesigen Autofähre in weiteren sechsundzwanzig Stunden zu ihrem Ziel bringen zu lassen.
Als Laura vom Oberdeck des Schiffes aus Korfu zum ersten Mal sah, war es schon dämmrig und die Sonne ging als glühender Feuerball in einem Meer aus Rot-, Orange- und Blautönen hinter der Insel im Westen unter. Dieses herrliche Naturschauspiel brachte es fertig, dass Laura sich in die Insel verliebte, bevor sie noch einen Fuß auf sie gesetzt hatte.

Wie die meisten Passagiere beobachteten Simon und Laura das umständliche Anlegen des großen Schiffes in dem kleinen Hafen und gingen erst im letzten Moment zu ihrem Fahrzeug auf eines der Unterdecks, um aus dem Bauch der Fähre an Land zu rollen. Die ganze Prozedur dauerte noch einmal eine knappe Stunde, dann konnten sie endlich aus dem Hafengelände fahren.

***

Nenja war vom Bahnhof in Hofheim mit der S-Bahn nach Frankfurt gefahren. Dort stieg sie, ohne auf das Hinweisschild zu achten, welches Ziel der Zug hatte, einfach in den nächstbesten ICE um, der nur Minuten später den großen, ehrwürdigen Kopfbahnhof in eine für das Mädchen unbekannte Richtung verließ.
Um nicht unnötig aufzufallen, suchte sie sich ein Abteil, in dem nur ein Paar saß, das vom Alter her ihre Eltern hätte sein können. Mit einem Ohr und Auge war sie aber stets nach draußen fixiert, damit sie sich verkrümeln konnte, bevor der Schaffner auftauchen und nach der Fahrkarte fragen würde.
Sich vor dem Kontrolleur zu verstecken klappte besser, als Nenja befürchtet hatte und so saß sie nach einiger Zeit wieder bei ihren Eltern im Abteil, kuschelte sich auf der Bank zusammen und bald fielen ihr die Augen zu. Die Ereignisse der letzten Tage hatten das Mädchen so ausgelaugt, dass sie, trotz der Unbequemlichkeit ihres Lagers und dem Ruckeln des Zuges, in einen tiefen, langen Schlaf fiel.
Sie sah nichts von der schönen Landschaft, die sie durchfuhren. Sie bekam auch nicht mit, als ihr Wagen in München an einen anderen Zug angekoppelt wurde und sie verschlief die Grenzüberfahrt nach Österreich.
Erst als der Zug in Innsbruck anhielt, wurde sie durch die Lautsprecherdurchsagen wach. Verwirrt schaute sie sich um und wusste im ersten Moment nicht, wo sie war. Das nette Ehepaar, das sich die ganze Zeit über leise verhalten hatte, um Nenjas Schlaf nicht zu stören, lächelte sie an und wollte sich verabschieden.
„Oh, hier muss ich auch raus!“, sagte Nenja, schnappte sich ihren Rucksack und trottete hinter ihrer Reisebekanntschaft her, so als gehöre sie dazu. Keiner hielt sie auf.
Im Bahnhofsgebäude verabschiedete sich das Mädchen von dem netten Paar und erzählte, dass ihre Tante sie gleich abholen würde. Beruhigt wandten die beiden sich zum Gehen und ließen Nenja alleine zurück.

Da sie keine Ahnung hatte, wo sie gelandet war, versuchte Nenja dies als erstes herauszubekommen. Bald war klar, dass sie in Österreich war, aber sie wollte noch weiter weg von zu Hause, den schlimmen Gefühlen und dem drohenden Heim.
An einem der zahllosen Stände kaufte sie sich drei Semmeln und eine große Flasche Wasser. Das musste für den ersten Hunger genügen, denn sie wollte so sparsam wie möglich mit ihrem Geld umgehen.

Kauend trat sie aus dem Bahnhofsgebäude und sah schräg gegenüber auf einem Parkplatz einige LKWs stehen. Dort zog es sie hin. Sie lief zwischen den großen Fahrzeugen herum und suchte sich eines aus, dass ein italienisches Kennzeichen trug.
Ein dunkelhaariger, freundlich wirkender Mann saß bereits hinter dem Steuer und schien gerade losfahren zu wollen. Nenja kletterte an der Fahrerseite aufs Trittbrett und klopfte an die Scheibe. Der Mann ließ das Autofenster herunter und fragte Nenja irgendetwas auf Italienisch, das sie nicht verstand.
„Entschuldigung, sprechen Sie vielleicht deutsch? Oder englisch?“ fragte Nenja und schaute den Fahrer bittend an.
„Nix guut deutsch“, sagte der Mann und sah abschätzend zu dem Mädchen.
„Bitte, darf ich mitfahren?“ Nenja zeigte mit ihrer rechten Hand erst auf sich selbst, dann in das Fahrerhaus.
Der Mann nickte und deutete zu der Beifahrertür hinüber. Nenja hüpfte vom Trittbrett und lief schnell auf die andere Seite des LKWs. Der Fahrer hatte ihr die Tür schon von innen geöffnet, so dass sie direkt auf den Sitz rutschen konnte. Ihren Rucksack stellte sie vor sich auf den Fußboden und sah den Mann verlegen an. „Danke, thank you!“
„Wo?“, fragte der Fahrer sie kurz.
„Italien. Bitte.“
„Wo Italia? Italia grooß!“
„Egal“, Nenja hob die Schultern.
Der Mann brummelte einige schnelle, italienische Worte vor sich hin, startete jedoch gleichzeitig den Motor und ließ den großen LKW anrollen.
Zufrieden und etwas entspannter lehnte sich Nenja in den Sitz zurück. „Hauptsache weit weg von diesem blöden Heim“, dachte sie und bot dem Fahrer lächelnd eine ihrer Semmeln an.

„Luigi“, der Mann zeigte auf sich selbst.
„Marie“, antwortete Nenja, weil sie ihren wahren Namen nicht verraten wollte.
„Ahhh, Marie, bella“, Luigi grinste breit. „Mama von Luigi“, er deutete auf sich selbst, „heißen Maria!“
Sie unterhielten sich fast die ganze Fahrt über auf deutsch-italienisch, verstanden nicht viel von dem, was der andere sagte, aber das tat dem lebhaften Gespräch keinen Abbruch.
Luigi zeigte der staunenden Nenja einen ganzen Stapel Fotos seiner großen Familie. Besonders stolz war er natürlich auf seine Bambini Marco und Ginetta und seine Frau Sophia.
Und Nenja redete sich alles vom Herzen, was sie in den letzten Wochen erlebt hatte und das tat ihr richtig gut. Luigi hörte aufmerksam zu und schien den Sinn zu begreifen, auch wenn er die Worte nicht verstehen konnte.
Bedauernd tätschelte er Nenjas Hand und versuchte sie mit einem Schwall von Worten zu trösten, die das Mädchen natürlich nicht begriff, die ihr aber trotzdem gut taten.

Die fast sechsstündige Fahrt kam Nenja überraschend kurz vor. Sie war so auf Luigi konzentriert gewesen, dass sie erstaunt aus dem Fenster starrte, als ihr Chauffeur anhielt und „Prego, Marie!“ sagte.
Verwirrt sah sie ihn an.
„Luigi fertig“, er deutete auf ein großes eingezäuntes Gelände, auf dem mehrere der gleichen LKWs standen, so wie er einen fuhr. Nenja begriff, dass ihre Reise hier ihr vorläufiges Ende gefunden hatte und beeilte sich, aus dem Fahrzeug zu klettern.
Der nette Fahrer war ebenfalls ausgestiegen und als sie Luigi zum Abschied die Hand reichen und sich noch einmal bedanken wollte, knurrte ihr Magen so laut auf, dass es ihr peinlich war.
Der Italiener sah das Mädchen kurz an und sagte: „Du warten!“ Dabei zeigte er auf einen Baum, der nahe an der Firmeneinfahrt stand. „Okay? Du warten, Luigi kommen“. Dann kletterte er flink in sein Fahrerhaus und fuhr den LKW rasant auf das Firmengelände.

Da Nenja nicht wusste, was sie sonst tun sollte, ging sie die paar Schritte und stellte sich in den Schatten der großen Pinie. Etwa eine viertel Stunde später kam ein kleiner, zerbeulter Fiat aus der Einfahrt geschossen und hielt mit quietschenden Reifen direkt neben Nenja an.
Die Beifahrertür öffnete sich und Luigis lachendes Gesicht kam zum Vorschein. Er winkte Nenja zu sich ins Auto und kaum saß sie auf dem unbequemen Sitz, schoss das kleine Fahrzeug auch schon los.

– Kapitel 9 –

„Wow, ist das schön hier!“ Laura sah sich staunend um. Am gestrigen Abend waren sie froh, dass sie das Haus in der Dunkelheit überhaupt gefunden hatten und zu müde, um sich noch groß umzusehen. Sie hatten den Bus einfach in die Auffahrt gestellt und sich auf ihr Notbett gelegt. Minuten später waren sie eingeschlafen.
Aber jetzt, am frühen Morgen, als die ersten Sonnenstrahlen sie weckten, konnten sie zum ersten Mal wahrnehmen, wo sie überhaupt gelandet waren. Das kleine Haus stand etwas abseits von Afionas, weit oberhalb des Meeres und die Terrasse hinter dem Gebäude gab einen atemberaubenden Blick auf das türkisblaue Wasser und einige kleine Inseln frei. Hand in Hand standen Simon und Laura minutenlang schweigend da und genossen dieses wunderschöne Panorama.

Doch dann wurde Laura kribbelig. Sie konnte es kaum erwarten, auch das Innere des Hauses zu sehen. Von den Fotos her kannte sie bereits jeden Winkel, aber die Wirklichkeit war weitaus fantastischer, als sie es sich vorgestellt hatte.
Simon ging praktischer an die Besichtigung heran und notierte sich im Kopf, was er als erstes erledigen wollte. „Am besten, ich arbeite mich von oben nach unten durch“, dachte er und sah im Geiste schon die beiden oberen Schlafräume und das kleine Bad fertig vor sich. Er gab seiner Frau einen Kuss mitten auf den Mund und ging dann zum Bus, um die ersten Werkzeuge auszuladen.

Laura lief mehrmals von Stockwerk zu Stockwerk und von einem Raum in den anderen. Sie hatte sich mit einem Block und einem Stift bewaffnet und schrieb für jedes Zimmer einen Namen auf ein extra Blatt. So hieß beispielsweise der große Raum im Erdgeschoss „Sonnenzimmer“ und der, der auf den Balkon führte „Meeresblick“. Für jeden Winkel notierte sie alles, was ihr zur Verschönerung spontan einfiel.
Da das Haus in einen Hang gebaut war, war das eigentliche Kellergeschoss von der Rückseite aus gesehen das Erdgeschoss, vor dem sich eine überdimensional große Terrasse befand. Von dort aus führten Türen in die Küche und in ein gemütliches Wohnzimmer, in dem ein großer, weißer Kachelofen auf kühle Nächte wartete. Dahinter waren ein Vorratsraum, zwei Abstellräume und ein kleines Duschbad mit Toilette untergebracht.
Ein Stockwerk darüber war der eigentliche Eingang von der Straße aus. In der großen Diele und den drei Zimmern, standen noch einige alte Möbel, die Simon im Geiste schon restauriert und an verschiedenen Stellen im Haus platziert hatte.
Auf jeden Fall war das Domizil gemütlich, aber auch groß genug, falls sie mal alle zusammen Urlaub hier machen wollten.

Sowohl Laura, als auch Simon waren so begeistert, dass sie in den ersten Tagen nach ihrer Ankunft nur im Haus herumwerkelten. Das Obergeschoss war fast schon fertig geweißt, angemalt und eingerichtet, als sie sich das erste Mal einen Tag Urlaub gönnten. Sie wollten heute die nähere Umgebung erkunden und baden gehen.

***

Nenja hatte keine Ahnung, wohin Luigi sie bringen würde. Aber es war ihr auch egal. Sie war inzwischen so hungrig und müde, dass sie sich einfach nur nach einem Stück Brot und einer Ecke zum Schlafen sehnte.
Als der kleine Fiat mit quietschenden Reifen aus einem der vielen Kreisel fuhr, sah Nenja eine lange Brücke vor sich. Das Hinweisschild, das sie im Vorbeifahren wahrnehmen konnte, sagte ihr, dass sie kurz vor Venezia waren. Venedig – da wollte sie im nächsten Frühjahr mit ihrer Mutter hin. Auf dem Markusplatz die Tauben füttern, durch das Gewirr der kleinen Gassen und tausend Brücken wandern und sich in einem Straßencafe über die Leute lustig machen, die vorbei gehen würden. Und natürlich mit einer Gondel und einem singenden Gondoliere die Kanäle erkunden. Wunderschön sollte ihre Fahrt werden! Ach ja – und nun war sie tatsächlich in Venedig, aber alleine und traurig. Ihr stiegen die Tränen in die Augen, wie so oft, wenn sie an ihre Mama dachte.

Luigi hielt auf einem großen Parkplatz, direkt vor der Stadt an und forderte Nenja auf, auszusteigen und mitzukommen. Sie trabte hinter dem Italiener her – was sollte sie auch anderes tun?
Nur wenige Minuten später stoppte Luigi vor einem kleinen Haus in einer Seitenstraße und stieß die Haustür auf. Er rief einen schnellen Schwall italienischer Worte nach innen und schob Nenja durch die Tür vor sich her. Eine mürrisch aussehende Frau kam aus einem der Zimmer in die Diele und sah das Mädchen misstrauisch an. Sie sah nicht gerade begeistert aus. Von den Fotos her wusste Nenja, dass dies Luigis Frau sein musste. Sie lächelte die temperamentvolle Italienerin mit den langen schwarzen Locken und den schon etwas in die Breite gegangenen Hüften freundlich an und streckte ihr eine Hand zur Begrüßung entgegen, aber Sophia ignorierte Nenja und schimpfte auf ihren Mann ein. Zumindest hörte es sich für Nenja so an.
Wild gestikulierend und mit lauten Stimmen versuchten sich die beiden gegenseitig zu übertönen. Nenja verstand natürlich kein einziges Wort, hatte aber das Gefühl, dass die Dame des Hauses nicht gerade begeistert von ihrer Anwesenheit war.
Als die zwei Streithähne nicht auf sie achteten, drehte sich Nenja wortlos um und verließ mit hängenden Schultern leise das Haus, durch dessen Tür sie erst vor einigen Minuten hoffnungsvoll getreten war. Sie wandte sich nach links von wo sie gekommen waren und ging einfach den Weg zurück bis vor die Grenze der Stadt.

Inzwischen war es stockdunkel und ihr Magen schmerzte vor Hunger. Mittlerweile war sie im Hafen von Venedig gelandet. Vor ihr lagen große Schiffe vor Anker und warteten auf Passagiere. Auf einer der riesigen Fähren wurden gerade die LKWs und Personenfahrzeuge an Bord dirigiert. Überall herrschte hektisches Treiben und wildes Durcheinander. Nenja gelang es neben einem der PKWs ungesehen in den gewaltigen Bauch des Schiffes zu gelangen, ohne darüber nachzudenken, was sie da eigentlich tat. Sie mischte sich unauffällig unter die Passagiere, die von den Unterdecks nach oben gingen und konnte sich anschließend unbehelligt auf dem Schiff bewegen. Keiner fragte mehr nach einem gültigen Ticket.

Nenja kaufte sich als erstes etwas zu essen und trinken im Bordrestaurant und suchte sich anschließend einen Schlafplatz in einem der Pullmann-Sitze, die den Passagieren mit Deckpassage zur Verfügung gestellt wurden. Völlig übermüdet kuschelte sie sich in die bequeme Liege und schlief bereits, als die Fähre noch nicht einmal ausgelaufen war. So verpasste sie die wundervolle Fahrt durch den Canale Grande, die Lichter Venedigs und den Zauber des hellen Mondes, der die Szenerie in ein silbern schimmerndes Licht tauchte.

Als Nenja mit etwas steifen Gliedern am folgenden Tag aufwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Das erste, was sie an diesem Tag tat, war sich genüsslich zu duschen und anschließend unter freiem Himmel auf dem Oberdeck zu frühstücken. Das war Luxus pur – und das Mädchen genoss den Augenblick ohne an ihre Reisekasse oder an die nähere Zukunft zu denken.
Eine Dose Cola mit Strohhalm in der Hand, saß Nenja später auf einem versteckt liegenden Platz unterhalb der Rettungsboote. Auf dem Seitendeck war es schattig und es hielten sich dort kaum Leute auf. Zwei-, dreimal gingen Hundebesitzer mit ihren Vierbeinern vorbei und ließen sie ihr Geschäft erledigen. Wenigstens entfernten sie die mehr oder weniger großen Häufchen anschließend, vielleicht aber auch nur, weil Nenja sie auffordernd ansah.

Das Mädchen träumte vor sich hin, während sie über das weite, blaue Meer blickte. Sie hatte inzwischen herausbekommen, dass die Fähre erst Igoumenitsa, dann Korfu und noch einmal fünf Stunden später Patras anlief. Wenn sie im Geographieunterricht auch nur halbwegs gut aufgepasst hatte, wusste sie, dass sie auf jeden Fall in Griechenland von Bord gehen würde. Sie hoffte darauf, dass ihr dies ohne Kontrolle des nichtvorhandenen Tickets gelingen würde. Um sicher zu gehen, beschloss sie, sich die Prozedur im ersten Hafen genau anzusehen und im zweiten dann selbst an Land zu gehen, wenn die Gelegenheit passte.
Korfu – eine kleine Insel im Ionischen Meer. Die nördlichste und grünste Insel von Griechenland, wie sie aus Gesprächen anderer Passagiere erfahren hatte. Nachdem ihr Entschluss gefasst war, stand sie zufrieden auf und begann damit das ganze Schiff zu erkunden. Dabei fühlte sie sich wie eine Piratenbraut, die säbelschwingend auf dem Weg zu ihrem Liebsten, dem einäugigen Kapitän, war.

– Kapitel 10 –

Weil sie durch mehrere verbotene Türen und über unzählige Treppen geschlichen war, hatte sich Nenja inzwischen irgendwo in den unteren Decks hoffnungslos verlaufen. Nun wusste sie nicht mehr, wie sie zurückkommen sollte. Die Maschinen der Fähre machten hier in den Tiefen des Schiffsbauches einen Höllenlärm und alles war dunkel, unheimlich und schmutzig. Kein Mensch war weit und breit zu sehen und ihre Abenteuerlust, den einäugigen Kapitän aus den Fängen der bösen Riesenkrake zu retten, war längst vergangen. Zu blöd aber auch! Schließlich war sie kein sechsjähriger Junge, sondern eine fast erwachsene Frau. Wie konnte sie auch nur solchen Kinderkram tun und sich zu diesem Fantasiespiel hinreißen lassen?
Plötzlich nahm sie ein schabendes Geräusch links vor sich wahr. Es hörte sich nicht nach der Maschine, sondern irgendwie menschlich an. Erleichtert stolperte sie auf den Laut zu.

Völlig unerwartet stand ein großer, sehr düster wirkender alter Mann vor ihr. Er trug merkwürdige Kleidung, wirres, graues Haar und einen langen Bart. Nenja zuckte erschrocken zurück und starrte den Fremden mit offenem Mund an. Dieser Mensch hier passte zwar in ihr Fantasiespiel von vorhin, aber nicht in die Realität. Er sah aus, wie einem Gruselmärchen entstiegen und sein altes, faltiges Gesicht mit der riesigen Nase wirkte furchteinflößend. Doch die Augen waren, soweit das in diesem Dämmerlicht erkennbar war, leuchtend blau und milderten den insgesamt bedrohlichen Eindruck etwas ab.
Nenja wollte sich umwenden und weglaufen, aber eine sehr melodiöse, fast sympathische Stimme hielt sie auf.
„Du musst vor mir keine Angst haben. Ich tue dir nichts. Komm ein bisschen näher“, lockte der alte Mann.
Nenja stand wie unter Hypnose und konnte nichts anderes tun, als auf den Bärtigen zuzugehen. Sie spürte das zwingende Bedürfnis in sich, dieser Stimme zu folgen. Sie blieb erst stehen, als sie direkt vor ihm war und er ihr ins Gesicht schauen konnte.
Der Mann senkte seinen Blick sekundenlang tief in Nenjas aufgerissene Augen, wandte sich dann langsam von ihr ab und murmelte: „Ach so ist das! Sehr interessant!“

„Du hast schlimmen Kummer, nicht wahr?“, sprach er nun auf Nenja ein. „Ich sehe es in deinen Augen, Mädchen. Du bist von zu Hause ausgerissen und versuchst dich vor irgendetwas oder irgendjemand zu verstecken.“
Nenja hatte noch immer kein Wort gesagt, entspannte sich aber langsam ein wenig. Clever war der Mann, denn er hatte mit seinen Vermutungen unwissentlich direkt ins Schwarze getroffen. Der Alte schien zwar nicht mehr alle Tassen im Schrank zu haben, doch gefährlich sah er eigentlich nicht aus und seine Stimme war warm und schön. Trotzdem war sie vorsichtig und schaute sich diskret nach einem Fluchtweg um.
„Wie schon gesagt, du brauchst nicht vor mir wegzulaufen und auch keine Angst zu haben. Komm, setze dich ein wenig und erzähle, welchen Kummer du auf deiner Seele mit dir schleppst.“ Es hörte sich freundlich an, was der Mann sagte. Nur das Wort Seele hatte er sehr eigenartig betont.

Nenja konnte sich dem Zauber, der von dem merkwürdigen Fremden ausging nicht entziehen. Gebannt schaute sie zu ihm auf und fing an zu sprechen, obwohl sie es gar nicht wollte: „Meine Mutter ist gestorben und nun wollen die mich in ein Heim stecken. Ich muss aber meinen Vater finden, denn der lebt noch und wird für mich sorgen. Mama hat’s mir versprochen in ihrem Brief, aber ich weiß nicht, wer er ist. Ich bin abgehauen, damit sie mich nicht ins Heim bringen können. Aber eigentlich weiß ich nicht weiter …“ Erschöpft hielt Nenja inne und sah den Mann ratlos an.
„Wie ist dein Name, Mädchen?“ fragte dieser.
„Mar …, Nenja“, sie konnte ihn einfach nicht anlügen.
„Nenja, ein ausgesprochen seltener und hübscher Name, finde ich. Wenn du möchtest, kann ich dir helfen.“
„Wie das? Kennen Sie denn meinen Vater?“, fragte Nenja ungläubig.
„Nein, nein“, lachte der Alte auf, „aber ich habe hier etwas, das dir helfen wird, ihn zu finden.“ Er wühlte umständlich in seiner riesigen Tasche, die er über der linken Schulter hängen hatte und holte schließlich einen kleinen Gegenstand hervor.

Langsam öffnete er seine Hand und das Mädchen konnte erkennen, was der alte Mann ihr zeigen wollte. Es war ein kleiner, mattschwarzer, glatter Kieselstein, der in einem warmen roten Licht zu strahlen schien. Nur ein kleines bisschen, es konnte ebenso gut ein Lichteinfall von irgendwoher sein, der den Stein zum Leuchten brachte. Faszinierend sah es aber allemal aus.

„Oh, wie hübsch!“ Nenja starrte den Stein an und hatte plötzlich den unbezwingbaren Wunsch ihn zu besitzen. Noch niemals in ihrem ganzen Leben hatte sie einen derartigen Drang in sich verspürt, es war regelrechte Begierde, die sich in ihr breit machte. Sie griff hastig nach dem Kiesel.
Lächelnd zog der alte Mann seine Hand zurück und seine Finger schlossen sich.
„Ganz so einfach kann ich es dir nicht machen. Hör mir erst einmal zu, was dieser kleine Bursche hier“, er hielt seine geschlossene Hand in die Höhe, „alles kann. Es ist nämlich ein Zauberstein, der dir drei Wünsche erfüllen wird. Ja, ja …“, nickte er, „wie im Märchen! Der Stein hat sogar einen Namen, er heißt Smargál und es gibt nur diesen einen auf der ganzen Welt. Du musst nur fest an ihn und seine Fähigkeiten glauben. Wenn du eines Tages deinen dritten Wunsch geäußert haben wirst, wird er zu mir, seinem Herrn, zurückkehren. Also sei nicht traurig, wenn du irgendwann glaubst, ihn verloren zu haben.“

Nenja sah ungläubig aus, aber die Gier, den Stein zu besitzen, hatte nicht nachgelassen. Im Gegenteil.
„Was muss ich denn dafür tun, um ihn zu bekommen?“, fragte sie atemlos und sah begehrlich auf die Hand des Fremden.
„Nicht viel, Nenja … ich möchte nur einen kleinen Teil … deiner Seele.“ Wachsam sah der Mann das Mädchen an. Nenja schüttelte sich leicht und schien wie aus einem Traum in die Wirklichkeit zurückzukommen. Aber das Verlangen war noch immer da.
„Wie soll das denn funktionieren? Wir sind doch hier nicht in der Märchenstunde. Und was heißt das überhaupt, einen Teil meiner Seele? Was soll das bedeuten?“
„Schau hier. Das ist ein Vertrag. Wenn du den mit einem klitzekleinen Tropfen deines Blutes benetzt, dann ist er gültig. Du bist ab sofort die Besitzerin des einzigartigen Smargáls und ich der zukünftige Besitzer eines kleinen Teils deiner Seele. Du wirst nichts davon spüren. Erst, wenn du eines fernen Tages stirbst, geht dieser Teil an mich über. Ich kann damit Gutes bewirken. Ein Lebewesen, dem noch ein Stück Seele fehlt, um fortbestehen zu können, wird dir ewig dankbar dafür sein, dass du ihm neues Leben ermöglicht hast. Du musst dir das ähnlich vorstellen, wie eine Organspende, die heute so modern ist. Nur, dass deswegen dein Körper nicht verstümmelt werden muss, denn die Seele tritt mit dem Tod aus dir heraus und ich nehme mir dann meinen Anteil daran. Wie gesagt, du wirst von dem allem weder etwas spüren, noch etwas vermissen. Bist du einverstanden?“ Der Alte sah Nenja gespannt an und ließ den Stein in seiner Hand rollen.

Das Mädchen konnte gar nicht anders, als zu nicken. Sie nahm eine Nadel aus den Händen des Mannes und piekste sich damit in den Zeigefinger ihrer rechten Hand. Es tat kein bisschen weh, aber ein Blutstropfen trat aus der kleinen Wunde hervor. Der Mann hielt ihr den Vertrag hin und Nenja drückte ihren Finger darauf. Soweit sie erkennen konnte, stand auf dem weißen Blatt Papier kein einziges Wort. Lächelnd öffnete der Fremde jetzt seine große Hand vor ihren Augen.

„Smargál“, murmelte Nenja völlig fasziniert und nahm vorsichtig den kleinen Stein an sich. „Smargál.“
Es war ein wunderbar warmes Gefühl, dass sie dabei empfand und sie war sich in diesem Moment nicht im Klaren darüber, wie verrückt und abgefahren die ganze Situation eigentlich war.

„Ich möchte dich noch warnen – vergeude deine Wünsche nicht, sondern denke erst gründlich darüber nach, was genau du möchtest. Erst wenn du ganz sicher bist, nimm den Stein in deine Hand und drücke ihn fest, bis du seine Wärme spüren kannst. Dann bitte Smargál, dir deinen Wunsch zu erfüllen – und vergiss anschließend nicht, dich bei ihm zu bedanken! Da ist er sehr eigen.“
Der alte Mann steckte lächelnd das weiße Blatt mit Nenjas Blutabdruck in seine große Tasche und wandte sich zum Gehen. „Dein dringlichster Wunsch, hier rauszukommen, wird dir aber ohne Anrechnung auf die drei Wünsche erfüllt werden“, lächelte er und zeigte mit der Hand auf eine Tür, über der das Schild Exit leuchtete.
Das Mädchen starrte verblüfft zum Ausgang hin und hätte schwören können, dass die Tür vorher noch nicht da gewesen war.
„Adieu, kleine Nenja. Ich wünsche dir viel Glück!“
„Danke und …“ Nenja wich überrascht zurück, denn der Alte war verschwunden. Sie schüttelte über sich selbst den Kopf und die ganze Geschichte kam ihr wie einer ihrer Tagträume vor, in die sie so gerne flüchtete. Dann wandte sie sich zu der Tür mit dem schimmernden Exit ………

Spannend? Oder? Willst du wissen, was Nenja noch alles erlebt und ob es ihr gelingt, ihren Vater tatsächlich zu finden? Ja?
Dann bestelle einfach das Taschenbuch oder ein Ebook …

Korfu

Personenbeschreibungen - Karierte Seele:

In ‘Karierte Seele’ treffen wir die schon bekannten Hofheimer und Merlheimer wieder. Da diese Geschichte etwa zwei Jahre nach Abschluss des ersten Romans spielt, ist zwischendurch einiges geschehen und an den Lebensumständen unserer ‘Helden’ hat sich inzwischen vieles verändert.

Wenn du mehr zu den Akteuren aus ‚Blonde Augen’ und ‚Karierte Seele’ wissen möchtest, kannst du das unter den Personenbeschreibungen bei ‚Blonde Augen’ nachschauen.
Die Leser des ersten Romans kennen die Veränderungen zum größten Teil bereits oder können zumindest ahnen, in welche Richtung sich die ein oder anderen Merlheimer inzwischen bewegt haben. Doch um die Spannung auch für ‚Blonde Augen’ zu erhalten (für die, die das Buch noch gelesen haben), werde ich hier nichts über die jetzige Situation unserer Akteure erzählen.
Fakt ist aber, dass du dich darauf freuen darfst, alle ‘alten Bekannte’ wiederzutreffen.

Dazu kommt noch die 15-jährige Nenja Merck, deren Abenteuer wir in ‘Karierte Seele’ begleiten werden.

Sandra Merck, 41 Jahre alt, die Mutter von Nenja, sowie Sandras Freundin Ingrid Rossner aus Hamburg spielen tragische Rollen in dem Buch.

Die tierliebe Holländerin Barbara van Heyden, die auf Korfu lebt, ist für Nenja ein Geschenk des Himmels.

Nenjas Freundin Lilli, Professor Giersdorf (Arzt in den Kliniken Bad Soden), Dr. Berger (Rechtsanwalt und Notar in Hofheim), Edward Strathmann (Nenjas Opa) und der quirlige italienische LKW-Fahrer Luigi sind ebenfalls mit von der Partie.

Nicht zu vergessen, ein Wollknäuel mit braunen Augen und ein sehr merkwürdiger Mann, der auf den ebenso merkwürdigen Namen Malrok hört.

Der Wichtigste von allen aber ist … Smargál … du wirst ihn kennenlernen!

Smargál
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